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Kampagne gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit heilt

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

Foto Demonstration

"Nie wieder Straflosigkeit"

Ein Verbot zu erinnern lässt niemals vergessen

Uruguay verweigert Schlussstrich unter die Vergangenheit seit zwanzig Jahren

Den Juni 2005 hatte sich Juan María Bordaberry sicherlich anders vorgestellt. Fast auf den Tag genau 32 Jahre zuvor, am 27.Juni 1973, hatte der uruguayische Ex-Diktator den Ausnahmezustand verkündet, das Parlament aufgelöst und mit Hilfe des Militärs die Macht an sich gerissen. Heute sitzt der Geburtshelfer der brutalsten Militärdiktatur in der Geschichte des Landes erstmals vor dem Untersuchungsrichter.
Lange konnten sich die uruguayischen Machthaber sicher fühlen, und tatsächlich wurde bis heute keiner von ihnen für die Verbrechen belangt, die sie während der zwölfjährigen Militärherrschaft begingen. Doch der Schutz der Straflosigkeit beginnt zu bröckeln.

Unter der Diktatur galt Uruguay als „Folterkammer Südamerikas“. Mehr als 60.000 Menschen wurden festgenommen, misshandelt, entführt oder ermordet. Fast 6.000 verbrachten einen Großteil jener Jahre in den Kerkern der Diktatur, die meisten von ihnen ohne jedes Gerichtsurteil. Mehr als 220 wurden verschleppt und ermordet.
Verglichen mit anderen lateinamerikanischen Diktaturen mögen diese Zahlen gering erscheinen, gemessen an der niedrigen Bevölkerungszahl, hatte Uruguay jedoch die meisten politischen Häftlinge des Kontinents: auf je fünfzig BürgerInnen kam eine Verhaftung.
„Von dreißig Uruguayern übt einer die Funktion aus, die anderen zu überwachen, zu verfolgen und zu bestrafen. Außer in Kasernen und bei der Polizei gibt es keine Arbeitsplätze“, vermerkte der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano 1976 in Buenos Aires in seinem Exiltagebuch und fragte sich: „Warum führt die blutige Chronik der Verbrechen nicht auch den Mord an der Seele durch Vergiftung auf?“

Foto Zelmar Michelini

Zelmar Michelini, im Mai 1976 im argentinischen Exil ermordet

"... Folter oder Genickschuss": Opposition mit dem Leben bezahlt

Wie Galeano waren Tausende Oppositionelle über den Rio de la Plata nach Argentinien geflohen, wo bis 1976 noch eine zivile Regierung herrschte. Unter ihnen auch Zelmar Michelini, Ex-Erziehungsminister und Mitbegründer des uruguayischen Linksbündnisses Frente Amplio, und Héctor Gutiérrez Ruiz, ehemals urguayischer Parlamentspräsident und Parteimitglied der Blancos. Michelini und Gutiérrez Ruiz schrieben für verschiedene Zeitungen – Galeano leitete die Zeitschrift „Crisis“.
Doch die Flüchtlinge waren auch im Nachbarland nicht sicher. Nach dem argentinischen Putsch spitzte sich ihre Lage dramatisch zu. Im Rahmen der Operation Condor hatten sich die Geheimdienste der Diktaturen im Süden Lateinamerikas auf eine grenzüberschreitende Verfolgung ihrer GegnerInnen verständigt. Bei einem seiner letzten Besuche in der Crisis-Redaktion prophezeite Michelini Galeano: „Es sieht so aus, als hätten wir nur die Wahl zwischen Folter und Genickschuss.“
In der Nacht zum 19.Mai 1976 verschleppten bewaffnete Sicherheitskräfte Zelmar Michelini aus dem Hotel Liberty und Héctor Gutiérrez Ruiz aus seiner Wohnung. Die für dieselbe Nacht ebenfalls geplante Entführung des ehemaligen uruguayischen Präsidentschaftskandidaten Wilson Ferreira Adelante konnte Matilde de Gutiérrez Ruiz durch eine telefonische Warnung verhindern. Er flüchtete nach Europa. Wenige Wochen später verließ auch Galeano das Land.
Drei Tage nach ihrer Entführung fand man die grausam zugerichteten Leichen von Gutiérrez Ruiz und Michelini zusammen mit zwei ebenfalls im Exil ermordeten Tupamaro-Aktivisten in einem verlassenen Auto. Sie bezahlten ihre Arbeit als Stimmen der Exil-Opposition mit dem Leben.

Keine zwei Wochen zuvor hatten sich der uruguayische Außenminister Juan Carlos Blanco und sein argentinischer Amtskollege getroffen. Blanco überbrachte einen Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates, dem neben verschiedenen Militärs auch der Innenminister und Präsident Bordaberry angehörten. Der Rat hatte entschieden, Gutiérrez und Michelini ermorden zu lassen. Argentinische wie uruguayische Kommandos vollstreckten diesen Beschluss in einer konzertierten Operation.

Gewalt gegen Frauen und Kinder

Foto Sara Mendez

Sara Mendez suchte einundzwanzig Jahre lang nach ihrem verschleppten Sohn

Am 13.Juli 1976 verschleppten sie auch Michelinis Tochter Margarita und die Lehramtsstudentin Sara Mendez in das geheime Folterzentrum „Automotores Olivetti“. Margarita Michelini berichtete später, während ihrer Haft die Schreibmaschine ihres Vaters dort gesehen zu haben. Während es ihr noch gelungen war, ihr Kind bei Nachbarn in Sicherheit zu bringen, verschwand Sara Mendez’ neugeborener Sohn Simón während ihrer viermonatigen Folterhaft in jenen Adoptionskanälen, in denen die Kinder zahlreicher Oppositioneller an kinderlose Familien des Sicherheitsapparates weitergeleitet wurden. Sara Mendez wurde heimlich nach Uruguay geschafft und sechs Jahre lang in verschiedenen Haftzentren gefangen gehalten.
Einundzwanzig Jahre lang suchte sie vergeblich nach ihrem Sohn, bis Simón schließlich in einer argentinischen Polizistenfamilie wiedergefunden wurde. Die Spur zu ihm aufgenommen hatte kein anderer als Margarita Michelinis Bruder Rafael.
Rafael Michelini ist heute Senator des Linksbündnisses Frente Amplio, wie vormals auch sein Vater Zelmar. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Straflosigkeit in Uruguay zu beenden, die Leichen der Verschwundenen zu finden und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.
Doch auch im Uruguay des Jahres 2005, das durch das Linksbündnis mit einer deutlichen Mehrheit in beiden Parlamentskammern regiert wird, ist dies kein einfaches Vorhaben.

Referendum gegen amnestierten Staatsterrorismus

Nach dem Ende der Diktatur im Frühjahr 1985 gab es zunächst den Versuch, zahlreiche Klagen gegen die  Verantwortlichen einzureichen. Als erster Militär sollte Oberst Gavazzo vor Gericht erscheinen, der für das argentinische Folterzentrum „Automotores Olivetti“ zuständig war. Doch nur einen Tag zuvor verabschiedeten die Abgeordnetenkammer und der Senat Ende Dezember 1986 ein Amnestiegesetz, gegen die Stimmen der Opposition. Amnestiert wurden all jene Verbrechen, die von Sicherheitskräften auf Anordnung begangen wurden. Die Prozesse wurden sofort gestoppt.
„Jeder Krieg bringt Exzesse mit sich und wird stets mit einer Amnestie beendet. Und an jenem Krieg der sechziger und siebziger Jahre tragen alle Uruguayer Mitschuld“, versuchte Jorge Battlle, damals noch Präsidentschaftskandidat der Colorados, die Amnestie zu rechtfertigen.
Matilde de Gutiérrez Ruiz, die Witwe des im Exil ermordeten ehemaligen Parlamentspräsidenten, empörte sich öffentlich: „1973 begann der Staatsterrorismus gegen eine eingeschüchterte, wehrlose und unschuldige Bevölkerung. Woher nimmt man das Argument, wir alle seien verantwortlich? Dafür, dass wir eigene Gedanken haben, politischen Parteien angehören, Gewerkschafter sind? In der Bibliothek Bücher haben, die den Faschisten nicht behagen? […] Was ist das für ein Exzess, wenn jemand in meine Wohnung in Buenos Aires eine bezahlte Bande schickt, um meinen Mann zu entführen? Was ist das für ein Exzess, wenn der Befehl heißt, den Journalisten Julio Castro zu entführen oder das Kind Simón zu rauben? Die Heuchelei dieser Argumente kann man nicht dulden. Die, die diese Exzesse begingen, tragen die Uniform meines Landes, beziehen ihr Gehalt vom Staat, rücken in der Armee im Rang auf.“

Gemeinsam mit der Witwe Michelinis und anderen Angehörigen von Opfern der Diktatur trat sie einer Kommission bei, die ein Referendum gegen das Amnestiegesetz auf den Weg bringen wollte. Unterstützung erhielten sie durch den Frente Amplio, die Union Civica, die MLN-Tupamaros, Teile der Blancos, Gewerkschaften, Studentenverbände und akademische Vereinigungen, Kirchengemeinden, Menschenrechts- und Angehörigengruppen.
Um ein Referendum herbeizuführen, waren mehr als 25 Prozent der Unterschriften aller Wahlberechtigten nötig, eine hohe Hürde, die sie jedoch nach neun Monaten und unzähligen Hausbesuchen genommen hatten. 634.702 Unterschriften wurden dem Wahlgerichtshof Ende 1987 vorgelegt.
Es begann das Ringen um die Gültigkeit der Unterschriften. Die BefürworterInnen der Amnestie manipulierten mit allen Mitteln. 106.000 Unterschriften wurden wegen angeblicher Formfehler gestrichen, darunter auch von zahlreichen prominenten RepräsentantInnen der Referendum-Kampagne. Massenproteste zwangen das Wahlgericht schließlich 36.000 UnterzeichnerInnen die Möglichkeit zur Bestätigung ihrer Unterschrift binnen drei Tagen einzuräumen. Eine offizielle Benachrichtigung der Betroffenen blieb jedoch aus. In einem erneuten Kraftakt gelang es der Kampagne dennoch, 23.000 von ihnen zu erreichen und zur erneuten Abgabe der Unterschrift zu bewegen. Das Referendum musste für den 16.April 1989 anberaumt werden.
Doch die Manipulationen der Regierung setzten sich fort. Werbespots gegen Straflosigkeit fielen der Zensur zum Opfer, und das Militär drohte öffentlich mit der „Fortsetzung des Krieges gegen die Subversion“. Zwar setzten sich 43,3 Prozent der Wahlberechtigten über ihre Angst hinweg und stimmten gegen das Amnestiegesetz. Für eine Mehrheit waren dies jedoch zu wenig.

Untersuchungskommission als Schlussstrichversuch

Foto Rafael Michelini

Rafael Michelini kämpft als Senator von Frente Amplio gegen Straflosigkeit

Dennoch kämpften Basisorganisationen weiter gegen die Straflosigkeit. Wie in den Nachbarländern zogen Gruppen vorwiegend junger AktivistInnen zu so genannten Escraches vor die Häuser der Täter und protestierten. Unablässig fanden Kundgebungen gegen die Amnestie statt. Klagen gegen zivile Verantwortliche, die nicht unter die Amnestie fielen, wurden vorbereitet. Schließlich sah sich – elf Jahre nach dem Referendum – Präsident Jorge Battlle gezwungen, eine „Friedenskommission“ ins Leben zu rufen, um die Folter und den Verbleib der Verschwundenen zu untersuchen, die aber keine juristischen Vollmachten erhielt.
Das dürftige Ergebnis dreijähriger Kommissionsarbeit lag am 10.April 2003 vor. Es enthielt neben dem erstmals offiziellen Eingeständnis, dass die staatlichen Sicherheitskräfte während der Diktatur Menschen systematisch in geheimen Zentren festhielten und folterten, auch die Feststellung, dass 38 Menschen in uruguayischer Haft verschwanden, die übrigen 182 außerhalb der Landesgrenzen. Berichten zufolge seien die Opfer beerdigt, verbrannt oder ins Meer geworfen worden.
Was von Präsident Battlle als Schlussstrich gedacht war, fachte den Protest jedoch nur weiter an. Senator Rafael Michelini bezeichnete den Bericht der Kommission als Ablenkungsmanöver. Nun müsse die Suche nach den sterblichen Überresten der Opfer des Terrors erstrecht weitergehen und juristisch gegen die Verantwortlichen vorgegangen werden. „Es ist ein paradoxes Land, wo diejenigen, die Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz ermordet haben, straflos und friedlich auf Straßen spazieren können, die die Namen der beiden tragen“, charakterisierte Eduardo Galeano die Situation.

Erste Verfahren und weitere Massenproteste

Foto Demonstration

Escraches: MenschenrechtsaktivistInnen enthüllen Verantwortliche an deren Wohnort

Noch während der Arbeit der Kommission wurde Ex-Außenminister Juan Carlos Blanco wegen Mordes an Gutiérrez Ruiz und Michelini angeklagt und für fast sieben Monate in Untersuchungshaft genommen.
Auch gegen Ex-Diktator Bordaberry wurde ermittelt, zunächst wegen der Ermordung kommunistischer Aktivisten. Das Verfahren wurde jedoch aus Mangel an Beweisen eingestellt.
Daraufhin zeigte die Anwältin Dr. Hebe Martinez Burlé für die Vereinigung der Familienangehörigen Bordaberry wegen Landesverrats an, da er 1972 das Parlament aufgelöst hatte. Das Gericht jedoch verschleppte das Verfahren bis zur Verjährung.
Allmählich wurden Regierung und Militär unruhig. Präsident Battlle schlug die Ausweitung der Amnestie auch auf zivile Funktionsträger vor, um die anlaufenden Klagen und die Untersuchungshaft Blancos zu stoppen. Massenproteste und erneute Escraches waren die Folge. Ein halbes Jahr später wurde er 
abgewählt.

Neuer Anlauf im Kampf gegen Straflosigkeit mit Frente Amplio

Am 31.Oktober 2004 gewann erstmals in der Geschichte des Landes der Frente Amplio die Wahl. Präsident Tabaré Vázquez plant unter anderem eine Reform des Justizsystems, die Verbesserung der Haftbedingungen, die Einrichtung eines Menschenrechtsinstitutes, die Reform der Streitkräfte, die Ratifizierung internationaler Abkommen und die Aufarbeitung der Vergangenheit.
Mit dem argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner vereinbarte Vázquez, gemeinsam nach den Verschwundenen beider Länder zu suchen. Mitte April 2005 veranlasste die Regierung erste Ausgrabungen auf Kasernengeländen.
Das Amnestiegesetz jedoch will auch die Linksregierung nicht antasten. Dies gebiete der Respekt vor der Volksabstimmung. Man wolle jedoch die Ermessensspielräume besser nutzen und Untersuchungen zum Beispiel der Morde im Ausland einleiten, da diese nicht durch ein uruguayisches Gesetz amnestiert werden können.
Im August 2005 stellte der Präsident einen Militärbericht vor, aus dem sich neue Hinweise auf den Verbleib von Verschwundenen und Beweismaterial über die Entführungen aus Buenos Aires ergeben. Wenigstens von drei geheimen Transportflügen ist die Rede.
Am 17. Mai nahm Staatsanwältin Mirtha Guianze eine weitere Klage von Dr. Hebe Martinez Burlé gegen Ex-Diktator Bordaberry und seinen Außenminister Blanco an. Die Anwältin der Angehörigenorganisation rollt damit die Morde an Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz neu auf. Sie habe nun ausreichend Beweise für eine Beteiligung der Angeklagten an der Operation Condor, in Tateinheit mit „gemeinschaftlichem Mord in besonders schwerem Fall“.
Nur wenige Tage vor dem 32. Jahrestag des Militärputsches lud Untersuchungsrichter Roberto Timbal Ex-Diktator Bordaberry vor, der alle Schuld dem Militär zuschob. Von einer Operation Condor habe er nichts gewusst.
Mit Spannung werden nun die ersten Prozesse gegen Militärangehörige, unter anderen gegen den Ex-Diktator General Alvarez, erwartet. Unklar ist, ob Militärs erstmals Vorladungen auch Folge leisten werden. Ein Kommandant, der in seiner Kaserne „Asyl“ für Angeklagte anbot, wurde bereits entlassen. Auch der für das Folterzentrum „Automotores Olivetti“ verantwortliche Oberst a. D. José Gavazzo könnte nach zwanzig Jahren Unterbrechung bald wieder vor Gericht stehen und wegen Taten im Ausland belangt werden. Für den Fall einer Vorladung hat Gavazzo angekündigt, sich „mit Waffen zur Wehr zu setzen“.

Knut Rauchfuss, 11.10.2005

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