Im März 2004 fand die zweite Delegationsreise der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum
nach Chile statt. Dort sprachen Bianca Schmolze und Knut Rauchfuss mit VertreterInnen der
„Ethischen Kommission gegen Folter“ (CECT), der „Organisation der ehemaligen
politischen Gefangenen“ (AEPP) und der "Vereinigung zur Förderung und Verteidigung der
Rechte der Bevölkerung" (CODEPU) über weitere gemeinsame Aktivitäten innerhalb der
Kampagne "Gerechtigkeit heilt".
Dabei ging es wie drei Jahre zuvor, bei der ersten Delegationsreise, vorrangig um die Durchsetzung
der Entschädigungsforderungen von Überlebenden der Militärdiktatur gegenüber der
chilenischen Regierung.
Zweites Ziel der Reise war Argentinien. Dort trafen Bianca Schmolze und Knut Rauchfuss die
Mütter der Plaza del Mayo und Mitglieder der Organisation der Kinder Verschwundener
(H.I.J.O.S.).
Im Folgenden dokumentieren wir die beiden Berichte der Delegation.
► Chile März 2004
► Argentinien März 2004
Nein zur Straflosigkeit
Bericht und Fotos von Knut Rauchfuss
In Chile hat sich die Debatte um die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen weiter
verstärkt, auch wenn sie noch weit davon entfernt ist, Dimensionen wie in Argentinien oder auch
nur konkret greifbare Erfolge zu verzeichnen. Insbesondere im Vorfeld des 30. Jahrestages des
Militärputsches im vergangenen Jahr erfuhr die Thematik jedoch einen ungeahnten Aufschwung im
öffentlichen Diskurs.
Seit Jahren fordern Menschenrechtsorganisationen die Regierung auf, der Straflosigkeit von
Menschenrechtsverbrechen in Chile ein Ende zu setzen. In dieser Frage sind sowohl die
Selbstorganisationen von Überlebenden der Diktatur von Bedeutung, als auch verschiedene Gruppen
von Angehörigen der in Polizeihaft Verschwundenen. Darüber hinaus existiert die im
November 1980 gegründete "Kommission zur Verteidigung der Rechte der Bevölkerung" (CODEPU)
und das heute leider weitgehend von der kommunistischen Partei vereinnahmte Netzwerk FUNA, das in
der Bevölkerung abgetauchte MenschenrechtsverbrecherInnen ausfindig machte und ihre
Identität auffliegen ließ.
Vor allem zwei Institutionen stellen psychosoziale Versorgung für Überlebende von Folter
bereit. Es handelt sich um das ebenfalls der kommunistischen Partei nahe stehende „Zentrum
für psychische Gesundheit und Menschenrechte“ (CINTRAS) und das unabhängige
"Lateinamerikanische Institut für Menschenrechte und psychische Gesundheit" (ILAS).
Zu Beginn des Jahres 2001 gründete sich die "Ethische Kommission gegen die Folter" (CECT) als
ein Netzwerk all dieser Organisationen. Sie trug entscheidend dazu bei, die vorangegangene
Zersplitterung der Menschenrechtsszene zu überwinden, auch Menschen, die nicht persönlich
unmittelbar oder mittelbar von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren, in die Arbeit einzubinden
und gemeinsam die Forderungen nach dem Ende der Straflosigkeit und nach einer vollständigen
Rehabilitierung der Überlebenden sowie deren Entschädigung voranzutreiben.
Es wurde viel ab 2001 erreicht. Erstmals gelang es, neben der Frage nach den in Polizeihaft
Verschwundenen auch die Existenz Tausender von Überlebenden und deren Ansprüche
öffentlich zu machen.
Die Regierung Lagos jedoch reagierte nicht auf die Forderungen – sie weigert sich bis heute, die Selbstamnestierung der Diktatur aufzuheben –, und versuchte, die Menschenrechtsorganisationen wieder zu spalten, durch partielle Einbindung in runde Tische und durch Regierungsprogramme zur materiellen Entschädigung von Teilgruppen, zum Beispiel der Angehörigen von Verschwundenen.
2002 stagnierte der Kampf gegen Straflosigkeit und konzentrierte sich auf die Versuche, mit
juristischer Findigkeit doch noch TäterInnen vor Gericht zu bringen. Leider blieben sie
weitgehend erfolglos: Prozesse wurden zwar eröffnet, die Anzahl der Urteile liegt jedoch im
unteren zweistelligen, die der Inhaftierungen im einstelligen Bereich.
Auch die FUNA arbeitete zunächst noch weiter. Die Übernahme durch die kommunistische
Partei führte jedoch dazu, dass sie heute faktisch inexistent ist.
Mit Hilfe einer Delegation aus Deutschland, der die Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (PDS) und Max
Stadler (FDP) angehörten – beide seinerzeit Mitglieder des Innenausschusses und an der
Durchsetzung des Entschädigungsgesetzes in Deutschland beteiligt –, gelang es der CECT
und der Vereinigung der ehemaligen politischen Gefangenen (AEPP), die chilenische
Medienöffentlichkeit im Mai 2002 erneut auf die notwendige Rehabilitierung der ehemaligen
politischen Gefangenen aufmerksam zu machen. Die Forderungen der CECT wurden zwar vom
Menschenrechtsbeauftragten der Regierung übernommen und nachdrücklich ihr gegenüber
vertreten, doch selbst dessen demonstrativer Rücktritt half nicht, die Regierung zur
Erfüllung der Forderungen zu bewegen.
Es war ausgerechnet die politische Rechte, die 2003 die Debatte um die Straflosigkeit wieder neu in
Gang setzte. Im Januar hielt General Cheyre, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, eine viel
diskutierte Rede, in der er öffentlich bekundete, für die während der
Militärregierung begangenen Menschenrechtsverletzungen gebe es keine Rechtfertigung und die
Entscheidungen von Gerichten seien zu respektieren.
Cheyre distanzierte sich von jenen Kreisen, die das Militär zum Putsch gedrängt oder
diesen später gerechtfertigt hatten, und er kritisierte jene, die gleichgültig zuschauten.
Das Landheer verstehe sich nicht als Erbe des Regimes Pinochet. Er betrachte die Streitkräfte
als Eigentum aller Chilenen und nicht einer bestimmten gesellschaftlichen beziehungsweise
politischen Gruppe.
So weit, so gut, und zunächst verwunderlich für einen hohen chilenischen Militär. Die
eigentliche Stoßrichtung der Rede erschloss sich jedoch erst auf den zweiten Blick und im
Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung:
"Nie wieder", betonte Cheyre weiter, dürfe es zu "Menschenrechtsverletzungen, Übergriffen,
Gewalt und Terrorismus" kommen, "nie wieder" aber auch zu einer "politischen Klasse, die
unfähig ist, eine Krise zu bewältigen, wie jene, die zu den Ereignissen des 11.9.
geführt" habe, womit er unmissverständlich auf eine Mitschuld der Regierung Allende
abzielte. Als Schlussfolgerung aus seinen Ausführungen "Nie wieder Militärputsch –
nie wieder Allende" schlug Cheyre vor, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Mit
dem 11.September 2003 sollten keine weiteren Verfahren zugelassen und die laufenden Prozesse
zügig eingestellt werden.
Der zweite Akt der Schlussstrich-Debatte folgte im Mai.
Verteidigungsministerin Michelle Bachelet plante pünktlich zum 30.Jahrestag des Putsches einen
runden Tisch mit Vertretern der Regierung, des Militärs und der Kirche, um einen "punto final",
einen endgültigen Schlusspunkt, hinter die Verbrechen der Militärdiktatur zu setzen.
Pablo Longueira, Anführer der Pinochet-Nachfolgepartei UDI, enthüllte am 18.Mai im
chilenischen Fernsehen, dass er seit einem Jahr engen Kontakt mit Angehörigen von
Diktaturopfern habe. Für die Menschenrechtsorganisationen war dies ein Schock, und sie
bezweifelten zunächst den Wahrheitsgehalt der Äußerungen. Aber es stimmte. Einige
Angehörige von Verschwundenen hatten sich mit der UDI eingelassen. Seine Partei, so
kündigte der Chefideologe der rechten Opposition an, werde Entschädigungen für die
Familien fordern.
Fortan kam keinE PolitikerIn, keinE LeitartiklerIn mehr an dem Thema vorbei, das dreizehn Jahre nach
dem Ende der Diktatur endgültig seinen Platz auf den Titelseiten gefunden hatte. Eine
regelrechte Welle von Enthüllungen, Geständnissen und Gesten überrollte kurz vor dem
30.Jahrestag des Putsches das Land.
Für die chilenischen Menschenrechtsorganisationen ergab sich daraus eine schwierige Situation.
Die Rechte berief sich auf Angehörige von Verschwundenen und nahm eine wesentliche Forderung
auf, der sich die Regierung Lagos bis dato entzogen hatte: die Entschädigung der
Überlebenden von Menschenrechtsverbrechen. Lange hatten Menschenrechtsorganisationen, allen
voran die "Vereinigung der ehemaligen politischen Gefangenen" und die "Ethische Kommission gegen
Folter", dafür gekämpft, eine öffentliche Anerkennung von politischer Haft und Folter
als Menschenrechtsverbrechen der Diktatur zu erreichen, und Entschädigungen gefordert. Aber
eben nicht nur rein materielle Entschädigungen, sondern eine umfangreiche politisch-soziale
Rehabilitation. Nun war es ausgerechnet die Partei der Diktatur, die einen Teil dieser Forderungen
erstmals öffentlich aufgriff und sie gleichzeitig mit einem Schlussstrich verband, der die
Straflosigkeit ein für alle Mal zementieren würde.
Im Juni 2003 appellierte Human Rights Watch an Präsident Ricardo Lagos, die
Schlussstrich-Debatte unmissverständlich zu beenden und Verbesserungen der strafrechtlichen
Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen einzuleiten. Die Schlussstrich-Debatte ging jedoch
unvermindert weiter, und sie schwamm auf den Krokodilstränen der ehemaligen
TäterInnen.
Lucia Hiriat de Pinochet, eiserne Ehefrau des Diktators, erklärte, dass sie hoffe, es werde in
Chile nie wieder eine Militärdiktatur geben.
Der pensionierte Sergeant Eliseo Cornejo berichtete im Interview mit der Tageszeitung "El Mercurio"
über illegale Ausgrabungen der Leichen von Verschwundenen. Detailliert beschrieb Cornejo, wie
er mit einer Gruppe Soldaten nach dem Coup Leichen aus dem zerschossenen Präsidentenpalast
zunächst in einem Brunnen außerhalb der Stadt hatte verschwinden lassen. Fünf Jahre
später sei er zur selben Stelle beordert worden, um die rund 30 Leichen mit einem Unimog wieder
herauszuziehen. Um den Gestank zu ertragen, hätten sich alle Beteiligten zuerst betrunken. Die
Leichen seien mit zwei Helikoptern abtransportiert und über dem Meer abgeworfen worden.
Demonstration von Angehörigen im Andenken an Frauen, die durch die Diktatur ermordet wurden (8.3.04)
Am 20.Juni konkretisierte die UDI ihre Vorstellungen von einem Schlussstrich und schlug vor, dass
die Strafprozesse und gerichtlichen Untersuchungsverfahren innerhalb einer festgeschriebenen Zeit
beendet werden sollten. Danach solle ein Richter darüber befinden, ob die Opfer noch am Leben
seien und der Tatbestand der Entführung andauere oder ob vom Tod des Opfers auszugehen sei. In
Kombination mit den Selbstbezichtigungen sollte es so ein Leichtes sein, die Verschwundenen für
tot erklären zu lassen und damit die Täter in den Genuss der Amnestie zu bringen, die
für Verbrechen vor 1978 verhängt wurde.
Findige MenschenrechtsanwältInnen hatten diese Amnestieregelung mit der Konstruktion
unterlaufen, "Verschwundene" seien nicht tot, sondern entführt, ein Verbrechen, das somit auch
nach 1978 bis heute andauere. Die Selbstbezichtigungen, wie zum Beispiel von Cornejo, zielten daher
darauf ab, Verfahren vorzeitig zu beenden und Opfer für tot erklären zu lassen, um die
Angeklagten unter die Amnestieregelung zu bringen, ohne dass die Informationen über die Opfer
preisgegeben werden müssten. Der Gesetzesvorschlag der UDI sollte daher auch dazu beitragen,
Angeklagte zu ermuntern, ihre Informationen zurückzuhalten, bis die Frist des Gerichtes
ausgelaufen ist, die Verschwunden für tot erklärt werden und sie selbst außer
Reichweite des Gesetzes sind.
Darüber hinaus schlug die UDI vor, Gerichtsurteile auch auf der Basis von Analogieschlüssen aus anderen Prozessen fällen zu dürfen und nicht nur aufgrund der Informationen zum jeweiligen Einzelfall. Dies würde ebenfalls dazu führen, Opfer für tot erklären zu können, ohne die genaueren Tatumstände gelüftet zu haben.
Auch der Vorstoß der Pinochet-Nachfolgepartei, die Angehörigen der Opfer zu entschädigen, kann nicht als Schuldeingeständnis gesehen werden, sondern nur als politisches Manöver für einen Schlussstrich. Die Partei will das Thema vor den nächsten Präsidentschaftswahlen 2006 vom Tisch haben. Also dauerten die "Mea culpa"-Interviews und Erklärungen weiter an:
"Es gab eine perverse Dynamik in der DINA", erklärte der UDI-Senator Jovino Novoa der
Zeitschrift "Cosas". "Das heißt nicht, dass alle Personen, die in der Militärregierung
gearbeitet haben, verantwortlich sind." Novoa, der von 1979 bis 1982 Staatssekretär im
Innenministerium war, behauptete, er selbst zum Beispiel habe davon nichts mitbekommen. "Wir haben
den Angehörigen der Opfer auch nicht viel Beachtung geschenkt", fügte er scheinbar
selbstkritisch hinzu.
"Es hätte kein Blut fließen dürfen", erklärte auch Monica Madariaga, eine
Cousine von Pinochet und eine Zeit lang Justizministerin der Diktatur.
Am 3.Juli 2003 veröffentlichten acht frühere Generäle eine kurze Erklärung, in der sie die "Existenz von Irrtümern und Problemen" im Bereich der Menschenrechte für sich zugaben, die sich nicht wiederholen dürften. Sie verurteilten die Exhumierung der Leichen ermordeter Oppositioneller, an der sie beteiligt waren. Alle acht Generäle waren ehemals Mitglieder der Junta, Verteidigungsminister, Innenminister und Vizekommandanten des Heeres unter Pinochet, und alle sind sie in Verfahren verwickelt. Ein ebenfalls geschickter Schachzug, der auf General Cheyre zurückgehen soll. Die acht Generäle anerkannten zwar mögliche rechtliche Konsequenzen der illegalen Exhumierungen, schwiegen aber zu jeglichen Vorkommnissen, die mit der vorausgegangenen Ermordung in Zusammenhang stehen. "Illegale Exhumierung" ist ein strafrechtlich minder schweres Verbrechen, dessen Eingeständnis sie jedoch in den Genuss der Amnestie für das Hauptverbrechen bringen soll.
In diesem Zusammenhang standen auch Enthüllungen eines Unteroffiziers des Heeres, Juan Carlos Molino, der im staatlichen Fernsehen Details zu "Todesflügen" enthüllte. Er erklärte seine Bereitschaft, vor Gericht auszusagen. "Ich habe an mindesten zwei Missionen teilgenommen, bei denen wir von einem Helikopter des Typs Puma Leichen von Festgenommenen an der Küste Zentralchiles abwarfen." Molina führte weiter aus, er sei dabei gewesen, wie mindesten neun Leichen von Oppositionellen 1979 vom Fliegerkommando des Heeres ins Meer geworfen wurden. Bei der Mehrzahl der Toten habe es sich um bereits bestattete exhumierte Tote gehandelt, andere seien erst kurz vor Abwurf umgebracht worden. An die toten Körper seien Schienenstücke befestigt worden, um zu verhindern, dass sie auftauchen und später aufgefunden werden würden. Die Leichen seien in Mehlsäcke eingewickelt worden. Die Helikopterpiloten wollten die Gesichter der Opfer nicht sehen.
Am 12.August 2003 kündigte Präsident Ricardo Lagos schließlich ein Gesetzespaket zur Entschädigung an, das in der Folge verabschiedet wurde. Es enthält 30 Maßnahmen, die sich in drei breit gefächerten Gesetzen und drei Verfassungsreformen bündeln. Es sei "nur ein Schritt auf dem Weg zur Wiedergutmachung", erklärte der Präsident. Sein Anliegen sei die "Suche nach Wahrheit, Perfektionierung der Justiz und Verbesserung der Gesetzgebung."
Und in der Tat enthält das Gesetzespaket einige wenige positive Elemente:
Es soll die Ortung der Überreste der Verschwundenen und die Aufklärung ihrer Schicksale
beschleunigen, die Unabhängigkeit der Gerichtshöfe bei der Interpretation der Gesetze
sicherstellen und die Zusammenarbeit der verschiedenen Staatsorgane zur Beschleunigung der Verfahren
fördern. Die Entschädigungen für Angehörige von Opfern, die durch die Diktatur
ermordet oder verschleppt wurden und verschwanden, wurden um 50 Prozent aufgestockt, ein Fonds
eingerichtet für einmalige Zahlungen in Höhe von 10 Millionen Peso an Nachkommen von
Opfern, die bislang noch keine Entschädigung erhalten haben, und Opferfamilien sollen eine
erhöhte Ausbildungsförderung und medizinische Versorgung erhalten.
Entschädigungen soll es aber nicht nur für die Familien der 3.200 Verschwundenen und
Hingerichteten geben, sondern erstmals auch für die rund 50.000 politischen Gefangenen, die
Haft und Folter überlebt haben. Letztere sollen allerdings nur einen symbolischen Betrag
erhalten.
Zur Abwicklung der Entschädigungszahlungen wurde Mitte November 2003 eine Regierungskommission
eingerichtet, bei der sich Haftüberlebende melden und ihre Geschichte vortragen und belegen
sollen. Diese "Nationale Kommission zu Gefängnispolitik und Folter" hat zunächst die
Aufgabe, sechs Monate lang Material und Zeugenaussagen zusammenzutragen. Nach Ablauf dieses halben
Jahres wird sie zwei Monate lang auf der Basis ihrer Erkenntnisse einen Vorschlag für ein
Entschädigungsverfahren erarbeiten.
Außerdem kündigte die Regierung Lagos die Überprüfung der Strafgesetze
während der Diktaturzeit und die Ratifizierung internationaler Menschenrechtsabkommen an, sowie
die Gründung eines nationalen Instituts für Menschenrechte.
Erkauft werden sollen diese Verbesserungen über eine Kronzeugenregelung, die denjenigen
VerbrecherInnen Strafminderung – bis hin zum völligen Straferlass – zusichert, die
sich kooperativ verhalten und mit Informationen zur "Wahrheitsfindung" beitragen. Dieser Vorschlag
erinnert stark an das Modell der südafrikanischen Wahrheitskommission, die mit einer
umfangreichen Aussage vor der Kommission ebenfalls die Zusicherung von Straflosigkeit verband.
Darüber hinaus gibt es keine Aufhebung des Amnestiegesetzes. Im Gegenteil, Präsident Lagos
erklärte, dass die Auslegung des Amnestiegesetzes jedem und jeder einzelnen RichterIn selbst
überlassen bleibe. Angesichts der hohen Anzahl von Richtern, die noch unter der Diktatur
eingesetzt wurden, bedeutet dies eine umfangreiche Ungleichheit vor dem Gesetz: je nachdem, wie der
oder die zuständige RichterIn den Tatbestand des Verschwindenlassens rechtlich auslegt,
genießen die TäterInnen Amnestie oder eben nicht.
Ehemalige politische Gefangene fordern die gerichtliche Bestrafung der Schuldigen (8.3.04)
Menschenrechtsorganisationen sehen in diesem Gesetzespaket die Gefahr, dass mit Hilfe materieller Entschädigungen die Zustimmung der Überlebenden zu einem Schlusspunktgesetz erkauft werden soll. Sie halten die geplanten Entschädigungszahlungen für unzureichend und den Fortbestand des Amnestiegesetzes sowie die Strafminderung für InformantInnen und die Straflosigkeit für BefehlsempfängerInnen für skandalös. Ähnlich hatte die Regierung Alfonsin seinerzeit in Argentinien das "Schlusspunktgesetz" und das "Befehlsnotstandsgesetz" eingeleitet.
So fordert die Ethische Kommission weiterhin gemeinsam mit der Organisation der ehemaligen politischen Gefangenen:
Im Zentrum der aktuellen Arbeit von AEPP, CECT und CODEPU steht derzeit die Einflussnahme auf die
Regierungskommission, die die Menschenrechtsverbrechen in den Gefängnissen und Folterlagern der
Diktatur zusammentragen und dokumentieren soll. Alle drei Organisationen bemühen sich, die
Teilnahme von Überlebenden an der Beweisaufnahme der Kommission zu steigern. Bislang sind
lediglich 14.000 Zeugenaussagen dort eingegangen. Die Zahl der ehemaligen politischen Gefangenen
liegt jedoch bei rund 50.000.
Vor allem auf dem Land melden sich weniger als zehn Prozent der ehemaligen politischen Gefangenen
aus Furcht vor noch immer in hohen lokalen Regierungs- und Verwaltungsfunktionen sitzenden
DiktaturanhängerInnen.
Auch aus dem Ausland ist die Beteiligung ehemaliger Häftlinge sehr niedrig. Dies liegt unter
anderem daran, dass die Kommission selbst noch nicht bekannt genug ist und die Modalitäten
für die Abgabe von Zeugenaussagen noch unklar sind. So soll zum Beispiel das Konsulat in
Frankfurt sich weigern, entsprechende Aussagen entgegenzunehmen, und darauf verweisen, dass die in
Deutschland lebenden ExilchilenInnen dafür nach Chile reisen müssten.
Auch die Mitte Mai auslaufende Beweisaufnahme der Regierungskommission wird als großes
Hindernis angesehen, auch nur die Hälfte der Menschenrechtsverbrechen in den Gefängnissen
überhaupt erfassen zu können.
Darüber hinaus besteht die Befürchtung, dass die Kommission – mit ihrem Bericht und
den Vorschlägen für den Ablauf der Entschädigungen – einen Schlusspunkt nach
argentinischem Vorbild einführen könnte.
Der Kampf, den Menschenrechtsorganisationen in Chile für diese Forderungen führen, ist nach wie vor schwer. Doch er wird mit hohem Durchhaltevermögen täglich weiter vorangetrieben. Argentinische Verhältnisse sind in Chile jedoch bislang unvorstellbar. Während der argentinische Präsident am 19.März dieses Jahres an der Spitze der Menschenrechtsorganisationen in das ehemalige geheime Folterzentrum ESMA vorstieß, ließ sein „sozialistischer“ Amtskollege Lagos im Nachbarland Chile, knapp zwei Wochen zuvor, eine Kundgebung der ehemaligen politischen Gefangenen vor dem Präsidentenpalast auflösen und sämtliche TeilnehmerInnen verhaften.
Mütter von der Plaza del Mayo mit anderen Organisationen bei Protesten gegen Straflosigkeit (26.2.04)
Seit der Wirtschaftskrise, die zum Jahreswechsel 2001/2002 zu aufstandsähnlichen Zuständen
im Land führte und binnen weniger Wochen fünf Präsidenten aus dem Amt jagte,
reißen die Proteste nicht mehr ab. "Que se vayan todos" – "Sie sollen alle abhauen!"
hieß die Parole, mit der seinerzeit die gesamte korrupte politische Klasse zum Teufel
geschickt werden sollte. Und bis heute hat sich vieles von diesem Motto erhalten. Seit zweieinhalb
Jahren erlebt zumindest die Hauptstadt Buenos Aires beinahe täglich Demonstrationen, Proteste,
Kundgebungen und Aktionen.
Bei den Protesten fällt die erstaunliche Einheit der sozialen Bewegungen auf, die – trotz
weltanschaulicher Unterschiede und der Vielfalt ihrer Herkunft beziehungsweise Zusammensetzung
– einig und gemeinsam vorgehen. In ihrem gemeinsamen Protest beschränken sich die Gruppen
und Organisationen auch nicht länger auf jene Themenfelder, die zu ihrer jeweiligen
spezifischen Arbeit passen.
Gemeinsam demonstrieren die Mütter der Plaza del Mayo (stets in der ersten Reihe) mit den
Arbeitsloseninitiativen, der Bewegung "Stadtviertel auf den Füßen", den Organisationen
der bewaffneten Streikposten, der "Piqueteros", mit den Studierenden und der Vereinigung der
RentnerInnen, mit attac und den politischen Linksparteien, mit der Organisation der Kinder
Verschwundener (H.I.J.O.S) und anderen Menschenrechtsorganisationen und vielen vielen mehr –
egal, ob es gegen die Straflosigkeit, gegen aktuelle Polizeiübergriffe, gegen den Beitritt zum
Freihandelspakt ALCA, gegen die Bezahlung der Schulden, gegen den Internationalen
Währungsfonds, gegen die Räumung besetzter Fabriken oder gegen den Krieg geht. Selbst die
Karnevalsvereine tragen mit den ihnen eigenen Kulturspektakeln zu den Protesten bei.
Zur Demonstration anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Bagdads zum Beispiel hatten rund
130 Gruppen aufgerufen und es erschienen mehr als 20.000 Menschen.
Diese Einigkeit in der Aktion über die verschiedenen Themenfelder hinweg ist verblüffend,
vor allem was die eindeutige Parteinahme der Menschenrechtsorganisationen in jenen politischen
Fragen betrifft, die nach klassisch bürgerlichem Menschenrechtsverständnis nicht
unmittelbar zu ihrem Aufgabenbereich gehören, wie zum Beispiel Fragen der Wirtschafts- und
Sozialordnung.
Doch nicht nur die Menschenrechtsorganisationen stellen gemeinsam mit den anderen Gruppen das
Wirtschaftssystem radikal in Frage: Wenn jeden Donnerstag die Mütter und Großmütter
der unter der Militärdiktatur in Polizeihaft Verschwundenen noch immer ihre Runden auf der
Plaza del Mayo drehen, sind sie nicht allein. Sie werden von den anderen sozialen Bewegungen
begleitet, die längst erkannt haben, dass die Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktatur
seinerzeit den Weg frei gemacht haben für die ökonomischen Reformen, die Korruption und
den Ausverkauf des Landes durch die nachfolgenden Zivilregierungen, vor allem durch diejenigen der
Präsidenten Menem und de la Rua. Sie sind sich daher einig, dass der Kampf gegen Straflosigkeit
und die sozialen Kämpfe von heute untrennbar zueinander gehören.
"Que se vayan todos" hieß die Parole des Aufstandes vor zweieinhalb Jahren, und nicht wenige
im fernen Europa fragten sich damals, was denn eigentlich kommen sollte, wenn tatsächlich
irgendwann einmal "alle weg" sein sollten. Niemand konnte sich vorstellen, wie denn eine
Gesellschaft überhaupt aussehen könnte, die nicht von oben koordiniert würde. Gerade
diejenigen, die ihre politische Sozialisation in Parteiapparaten durchlaufen hatten, lächelten
etwas amüsiert über die anarchischen Phantasien aus Argentinien.
Doch in der Zeit, die seither vergangen ist, hat sich im Land eine Parallelgesellschaft
herausgebildet, die einen vorsichtigen Eindruck davon vermittelt, wie ein "Danach" aussehen
könnte. Diese Parallelgesellschaft funktioniert nach ihren eigenen Regeln. Und diese Regeln
haben wenig zu tun mit den herrschenden Gesetzen, mit denen des Marktes ebenso wenig wie mit denen
von Regierung, Verwaltung und Gesetzbuch.
Aus den sozialen Bewegungen heraus werden Volksküchen organisiert, Sach- und Dienstleistungen
über Tauschhandel abgewickelt, Entscheidungen in sogenannten “Volksversammlungen”
in den Stadtvierteln gefällt, Kooperativen gegründet und Gewerkschaften auch für den
informellen Sektor.
Die Mütter von der Plaza del Mayo haben eine eigene Universität errichtet, in der man
investigativen Journalismus, alternative Wirtschaftskonzepte, internationales Recht und vieles mehr
studieren kann.
Etwa 500 besetzte Fabriken und Betriebe im Land, Krankenhäuser, Hotels und eine
selbstverwaltete Fluglinie beliefern sich gegenseitig im Rahmen des Tauschhandels, und an
zahlreichen Kiosken werden alternative Zeitungen vertrieben.
DemonstrantInnen fahren kollektiv schwarz, und wenn die U-Bahn-Gesellschaft die Zugangsschächte
anlässlich einer Demonstration vergittert, dann werden sie eben aufgebrochen und die Bahn
gestürmt.
Um Hamsterkäufe bei Teuerungen zu vermeiden, rationieren einzelne HändlerInnen
selbstständig ihr Angebot. Und den Verkehr halten mit Knüppeln bewaffnete Streikposten,
sogenannte "Piqueteros", an, wenn es für irgendeine Aktion erforderlich scheint.
Noch ist diese Parallelgesellschaft ein zartes Pflänzchen und weit davon entfernt, die
herrschende zu überwinden. Sie ist auch nicht als geplantes Modell alternativer
Ökonomieformen entstanden. Sie ist aus der Not in der Krise geboren, aber sie wächst und
hält sich trotz aller Probleme seit mehr als zwei Jahren. Und sie trägt entscheidend zur
Lösung der schlimmsten ökonomischen und sozialen Probleme bei, die das herrschende System
geschaffen und den Menschen hinterlassen hat
Demonstration der Kinder von Verschwundenen (H.I.J.O.S.) am 26.2.04
Doch auch, wenn die Forderung nach Beseitigung der gesamten politischen Klasse fortbesteht, ist das
Verhältnis der sozialen Bewegungen zu ihrem Präsidenten heutzutage nicht das schlechteste.
Im vergangenen Jahr wurde der Peronist Nestor Kirchner – ein bis dahin weitgehend unbekannter
und noch heute relativ unscheinbarer Bürokrat, der zuvor jahrelang eine Provinz im Süden
des Landes regiert hatte – Präsident Argentiniens, weil sein ebenfalls peronistischer
Gegenkandidat Menem noch vor dem zweiten Wahlgang zurücktrat. Kirchner hatte im ersten Wahlgang
gerade mal ein Viertel der Stimmen erhalten. Heute liegt sein Beliebtheitsgrad in Meinungsumfragen
bei 85 Prozent.
Dies hat handfeste Gründe:
In nicht mal einem Jahr Regierungszeit entließ Kirchner zunächst die gesamte
Militärführung aus dem Amt. Anschließend legte er sich mit den noch durch das
Militär oder zumindest durch seinen Vorgänger Menem eingesetzten korrupten Richtern des
Obersten Gerichtshofes an, die er teilweise ebenfalls in den Ruhestand schickte. Ende vergangenen
Jahres wurde das von Amtsvorgänger Alfonsin erlassene "Schlusspunktgesetz" und das
"Befehlsnotstandsgesetz" aufgehoben.
Beide Gesetze verfolgten das Ziel, die Straflosigkeit der zwischen 1976 und 1983 begangenen
Menschenrechtsverbrechen zu sichern. Mit dem "Schlusspunktgesetz" stoppte Alfonsin seinerzeit die
Flut der Anklagen gegen Menschenrechtsverbrecher zu einem bestimmten Stichdatum, nach dem keine
weiteren Verfahren eröffnet werden durften. Mit Hilfe des "Befehlsnotstandsgesetzes" konnten
sich TäterInnen darauf herausreden, auf Befehl von oben gehandelt zu haben.
Diejenigen Militärs, gegen die beim Inkrafttreten der Gesetze bereits Verfahren anhängig
oder gar Urteile ausgesprochen waren, wurden von Alfonsins Amtsnachfolger Menem begnadigt. Auch
diese Begnadigungen hob Kirchner in der vorletzten Woche auf, so dass die Prozesse nun wieder
aufgenommen und Haftstrafen aus den achtziger Jahren abgesessen werden müssen.
In der vergangenen Woche verschaffte sich der Präsident an der Spitze einer Gruppe von
ehemaligen politischen Gefangenen Zutritt zur Militärschule ESMA, einem zur Zeit der
Militärdiktatur berüchtigten Folterzentrum, das sich bis zu diesem Zeitpunkt noch immer
unter Kontrolle der Marine befand. Die Gruppe entfernte demonstrativ die noch immer an den
Wänden hängenden Portraits der Juntageneräle Videla und Gignone, stellte Akten
sicher, und Kirchner beschlagnahmte die Militärschule, um sie in ein staatliches Museum
über die Verbrechen der Diktatur umzuwandeln.
Im Dezember vergangenen Jahres ordnete Kirchner die Entlassung von Polizeibeamten an, die sich im
Zuge der Aufstände von Dezember 2001 Menschenrechtsverletzungen an DemonstrantInnen schuldig
gemacht hatten. Im UN-Menschenrechtsausschuss erklärte der argentinische Vertreter, dass der
Kampf gegen Straflosigkeit das zweitwichtigste Ziel der Regierung nach der Bekämpfung der Armut
sei.
Auch in ihrem vorrangigen Ziel hat die Regierung Kirchner bereits erste Fortschritte zu verzeichnen.
Ein Teil der besetzten Fabriken wurde in den Besitz der ArbeiterInnen überschrieben.
Das neu gegründete Ministerium für menschliche Entwicklung und Arbeit hat für die
Provinz Buenos Aires ein Sofortprogramm unter dem Titel "Vollständiges Frühstück
für alle" eingeleitet. Bereits jetzt erhalten 800.000 Kinder zwischen drei und acht Jahren in
den öffentlichen Schulen täglich ein komplettes Frühstück. In diesem Jahr sollen
mindestens weitere 500.000 zwischen neun und dreizehn Jahren hinzukommen. An 1.360.000 in dieser
Altersgruppe soll zumindest ein Glas Milch täglich abgegeben werden.
Anfang März traf sich Präsident Kirchner mit seinem brasilianischen Amtskollegen Lula da
Silva in der venezuelanischen Hauptstadt Caracas. Dort unterzeichneten sie ein Abkommen, dass beide
Länder in Zukunft nur noch gemeinsam mit dem internationalen Währungsfonds verhandeln
werden.
Auch Uruguay, das drittwichtigste Land des MERCOSUR, wurde aufgefordert, sich dem Abkommen
anzuschließen. Als sich Präsident Batlle weigerte, rief Kirchner über die Medien die
uruguayische Bevölkerung auf, bei den Wahlen im kommenden Oktober den Kandidaten Tabare Vasquez
vom Linksbündnis "Frente Amplio" zum Präsidenten wählen, dem gute Chancen auf einen
Sieg vorausgesagt werden. Im "Frente Amplio" ist auch die ehemalige uruguayische Stadtguerilla
"Tupamaros" vertreten.
Nach seiner Rückkehr aus Venezuela rief Kirchner die argentinische Bevölkerung vor dem
Kongress zu einer Großkundgebung zusammen. Auch wenn der Platz von den blauweißen Farben
der PeronistInnen dominiert war, waren die sozialen Bewegungen teilweise ebenfalls erschienen. Sie
hatten sich abgesprochen, ihre Präsenz lediglich mit Hilfe von Che Guevara-Bildern zu zeigen.
Doch nicht nur die sozialen Bewegungen blieben skeptisch. Höflichen Beifall gab es zwar
für das Erscheinen des Präsidenten und die ein oder andere gut klingende Passage seiner
Rede. Von einem wirklichen Applaus ließ sich jedoch erst sprechen, als Kirchner unumwunden
klar machte, dass seine Regierung nicht länger gewillt sei, die Schulden des Landes zu
bezahlen, solange die sozialen Probleme nicht gelöst seien.
Im Pakt mit Brasilien bedeutet dies ein nicht unwesentliches Problem für den Internationalen
Währungsfonds, der in den Folgetagen erstaunlich zurückhaltend reagierte.
Doch so positiv die bisherige Bilanz der Regierung Kirchner auch gewertet wird, die sozialen
Bewegungen lassen sich derzeit nicht davon blenden. Die Zurückhaltung gegenüber
rhetorischen Phrasen auf dem Kundgebungsplatz und der reale Applaus allein für die handfesten
Maßnahmen ist nur ein Beispiel für die Skepsis auch gegenüber dieser Regierung.
Statt sich zurückzulehnen und auf von oben eingeleitete Verbesserungen zu warten, treiben die
DemonstrantInnen Kirchner und sein Kabinett mit ihren Forderungen vor sich her. Wird in der
peronistischen Partei über einen Beitritt zum Freihandelspakt mit den USA (ALCA) gestritten,
belagern sie den Präsidentenpalast, obgleich Kirchner sich bisher stets eher gegen den ALCA
positioniert hat. Und während draußen demonstriert wird, verhandelt drinnen eine
Delegation, angeführt von den Müttern der Plaza del Mayo, mit dem Präsidenten.
Obwohl Kirchner sich im Irak-Krieg deutlich gegen die USA gestellt hat und auch im Rahmen der
Invasion Haitis – vergleichsweise zurückhaltend – lediglich Sanitätspersonal
entsandte, belagerten am 21. März mehr als 20.000 DemonstrantInnen nicht nur die US-Botschaft.
Immer wieder wurde die Forderung nach vollständigem Rückzug aus Haiti lautstark erhoben.
Seit 1977 suchen die Mütter von der Plaza del Mayo nach ihren verschwundenen Kindern.
Auch in Sachen Menschenrechte sind die Mütter der Plaza del Mayo und die Kinder von
Verschwundenen (H.I.J.O.S.) den bisherigen Fortschritten der Regierung stets eine weitere Forderung
voraus. Zum 24. März, dem 28. Jahrestag des Militärputsches, haben sie eine weitere
Kampagne begonnen, die zur Absetzung sämtlicher RichterInnen führen soll, die bereits
unter der Diktatur in Dienst waren. "Nur mit anderen Richtern wird es Gerechtigkeit geben",
heißt es in dem Aufruf. "Die Straflosigkeit, das sind die Richter der Diktatur, sie sind
ebenso völkermörderisch wie das Militär selbst. Solange sie in Funktion bleiben,
existiert keine Demokratie ..."
Sie fordern weiterhin die Verurteilung der TäterInnen, so lange, bis auch die letzten von
diesen im Knast sitzen, sie verlangen die Aufklärung der Schicksale aller mehr als 500
Jugendlichen, die als Kinder von Verschwundenen durch Günstlinge des Militärs
zwangsadoptiert wurden, und sie drängen auf eine Amnestieregelung für die in den
Kämpfen gegen das System verhafteten AktivistInnen, sowie die sofortige Einstellung von
Prozessen, die gegen diese geführt werden.
So positiv die Entwicklungen in Argentinien sowohl auf Seiten der sozialen Bewegungen, als auch in
Bezug auf die Regierung Kirchner zu werten sind, so bedroht sind diese ersten Fortschritte doch
täglich. Tagtäglich gehen anonyme Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen auf den
Telefonleitungen ihrer Büros ein. Zuletzt vor zwei Wochen wurde die Vorsitzende der Vereinigung
der Mütter der Plaza de Mayo auf offener Straße, unweit der Universität der
Mütter, bedroht.
Auch Präsident Kirchner hat mehrfach Morddrohungen erhalten, die eindeutig aus Kreisen der
ehemaligen Militärdiktatur zu stammen scheinen. In der peronistischen Partei selbst ist die
Unterstützung für den linken Präsidenten eher gering. Ein starker Flügel wird
seinem rechten Amtsvorgänger Duhalde zugerechnet. Somit braucht Kirchner zur Durchsetzung
seiner Politik den Druck der Straße. Die sozialen Bewegungen, die noch immer eigentlich das
Abdanken der politischen Klasse verlangen, sind eine unbewusste Symbiose mit ihrem Präsidenten
eingegangen.