junge Welt, 24.05.2003
Wochenendbeilage
http://www.jungewelt.de/2003/05-24/022.php

 

 

Knut Rauchfuss

Anklagebank statt Lehrstuhl

Der Fall Mesut Yilmaz

* Auszug aus einer Dokumentation http://www.bo-alternativ.de/mfh/kampagne/yilmaz.html
Verantwortlich: M. Budich, c/o LQF, Herner Str. 79, 44791 Bochum


Zum Sommersemester 2003 und Wintersemester 2003/04 hat die Ruhr-Universität Bochum den ehemaligen Ministerpräsidenten der Türkei, Mesut Yilmaz, eingeladen, an der Hochschule zu lehren. Studierende und Menschenrechtsorganisationen forderten die Universität auf, diese Einladung umgehend zurückzuziehen.

In der Türkei ist die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen nach wie vor Staatsdoktrin. Darüber können auch einzelne Verfahren, die in Konzession an die europäischen Beitrittsregeln erfolgen, nicht hinwegtäuschen.

Der ehemalige türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz gehört zu jenen, die an den Menschenrechtsverbrechen in der Türkei eine wesentliche Mitschuld tragen. Yilmaz war in der Zeit vom Juni 1991 bis zum November 1998 mit Unterbrechungen dreimal Ministerpräsident, später hatte er unter Ministerpräsident Ecevit das Amt des Stellvertreters inne.

Dieser Reader schildert die Hintergründe jener Entwicklungen und zeigt Yilmaz politische Mitverantwortung an diesen Verbrechen auf, die u.a. mit Zitaten aus seinen öffentlichen Erklärungen belegt werden.


Ex-Faschisten bei der nationalliberalen Mutterlandspartei

Drei Jahre nach dem Militärputsch wurde 1983 das durch die Generäle erlassene Parteienverbot teilweise wieder aufgehoben. Die MHP (Nationalistische Bewegungspartei) blieb jedoch zunächst noch von den Wahlen ausgeschlossen. In dieser Situation suchten namhafte MHPler einen neuen politischen Handlungsrahmen und wechselten zu legalen Parteien. Turgut Özals im Mai 1983 neu gegründete liberalkonservative »Anavatan Partisi« ANAP (Mutterlandspartei) nahm verschiedene Ex-MHPler in ihre Reihen auf.

ANAP erreichte bei den Parlamentswahlen im November die Mehrheit und wurde mit der Regierungsbildung betraut. Mesut Yilmaz, der als Abgeordneter aus Rize am Schwarzen Meer einen Parlamentssitz errungen hatte, stieg ins Regierungskabinett auf. Seine Laufbahn begann er als Staatsminister für Information und Regierungssprecher.

Von Beginn an waren die Strukturen der liberalkonservativen ANAP mit ehemaligen Faschisten durchsetzt. Ähnliches läßt sich auch für die zeitgleich in Konkurrenz entstandene konservative »Do∂ru Yol Partisi« DYP (Partei des rechten Weges) nachweisen. Auch Mesut Yilmaz selbst hatte verschiedenen Quellen zufolge eine politische Vorgeschichte mit engen Verbindungen zum Lager der Grauen Wölfe.

Diese Informationen sind für die weitere Betrachtung der Politik der konservativen Regierungsparteien von wesentlicher Bedeutung. Nicht nur, daß ANAP ab 1999 offen mit der MHP koalierte; über die gesamten Jahre ziviler Regierungen und verstärkt in den 90ern griffen Regierungsmitglieder – auch von ANAP – immer wieder auf Dienstleistungen international gesuchter militanter Faschisten zurück, die als staatliche Auftragskiller für Verbrechen an politischen Gegnern in Sold genommen wurden.


1983-1990: Yilmaz wird Minister der ANAP-Regierung

Nach seiner Zeit als Informationsminister wurde Yilmaz 1986 Minister für Kultur und Tourismus. In den Jahren 1987 bis 1990 bekleidete er unter Ministerpräsident Turgut Özal das Amt des Außenministers.

Am 21. Februar 1990 legte Yilmaz sein Amt als Außenminister nieder. Als Ursachen werden Differenzen mit Özal und dem von diesem bestellten Nachfolger Akbulut diskutiert. Die ideologisch weit auseinander klaffenden Flügel der Partei konnten von Akbulut jedoch nicht zusammengehalten werden. Yilmaz schien der beste Kompromiß für den Parteivorsitz. In einer Kampfabstimmung auf dem ANAP-Parteitag im Juni 1991 siegte er über Akbulut, wurde Parteivorsitzender. Auch der kurz zuvor aus der Schweiz geflohene Mafiakiller Abdullah Çatly unterstützte die Kandidatur von Yilmaz, erklärte dessen Kompagnon Oral Çelik am 29.01.1997 dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß. Çatly und Çelik kamen beide von den »Grauen Wölfen«. Gemeinsam hatten sie u.a. den Herausgeber der Zeitung Milliyet ermordet.


23.06.1991–20.11.1991: I. Amtszeit als Ministerpräsident

Yilmaz erste Amtszeit als Ministerpräsident der Türkei war verhältnismäßig kurz. Sie dauerte vom 23.6.1991 bis zum 20.11.1991. Bei den Oktoberwahlen hatte ANAP massiv an Stimmen eingebüßt. Sein Kontrahent Süleyman Demirel ging, diesmal als Vorsitzender der IYP, zum siebten Mal als Ministerpräsident aus den Wahlen hervor.

In Yilmaz kurze Amtszeit fallen jedoch einige Menschenrechtsverbrechen, die auch international für Aufsehen sorgten.

Am 5. Juli 1991 wurde der kurdische Politiker und Mitbegründer des türkischen Menschenrechtsvereines IHD, Vedat Aydyn, von Zivilpolizisten entführt, gefoltert und erschlagen. Nur drei Tage zuvor hatte der IHD-Vorsitzende von Batman, Syddyk Tan, ein Attentat durch eine Autobombe schwer verletzt überlebt.

Auf der Beerdigung von Vedat Aydyn richtete die Polizei ein Blutbad an. Acht Menschen wurden erschossen, über 300 verletzt. Darunter vier kurdische Abgeordnete und 17 JournalistInnen. Die Korrespondentin der taz wurde von Sicherheitskräften schwer misshandelt. Mesut Yilmaz hingegen warnte bei einer eilig einberufenen Sondersitzung des türkischen Parlaments vor »weiteren separatistischen Provokationen«.

1993 folgte Demirel dem unter unklaren Umständen ums Leben gekommenen Özal ins Amt des Staatspräsidenten und wurde als Ministerpräsident von Tansu Çiller beerbt.

Bis 1996 blieb Yilmaz Oppositionsführer.


21.11.1991–11.3.1996: Yilmaz erstmals in der Opposition

Während Yilmaz Oppositionszeit eskalierte unter den MinisterpräsidentInnen Demirel und Çiller der Krieg in den kurdischen Provinzen immer weiter.

Yilmaz erwies sich von der Oppositionsbank heraus jedoch als Hardliner und Scharfmacher. Die durch die Regierung in Aussicht gestellte Aufhebung des Ausnahmezustandes und eine Teilamnestie als Reaktion auf den von der PKK einseitig verhängten Waffenstillstand, quittierte er 1993 mit den Worten: »War diese Verfügung als Konzession an die Terrororganisation gedacht?«

Darüber hinaus begrüßte Yilmaz die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten der Partei DEP. Ein halbes Jahr später wurden sie aus dem Parlament heraus verhaftet.


12.03.1996–28.06.1996: II. Amtszeit als Ministerpräsident

Bei den Wahlen 1995 landete ANAP mit 19,7 Prozent wie 1991 erneut auf dem zweiten Platz. Die meisten Stimmen konnte jedoch die islamistische »Refah-Partisi« (Wohlfahrtspartei) auf sich vereinigen. Um eine Regierungsbeteiligung der Refah zu vermeiden, übernahm am 12.3.1996 ein Minderheitskabinett einer Koalition aus ANAP und DYP die Regierungsgeschäfte. Mesut Yilmaz wurde zum zweiten Mal Ministerpräsident.

Ins Kabinett wurden eine Reihe Minister berufen, die ideologisch der faschistischen MHP nahestanden oder ihr vormals sogar angehört hatten.

In seiner Regierungserklärung im März 1996 bekannte sich Ministerpräsident Yilmaz ausdrücklich zur Fortsetzung des Krieges in den kurdischen Gebieten der Türkei. Nur wenige Tage später machte Yilmaz anläßlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz zwar erste zaghafte Ankündigungen über »neue humanere Herangehensweisen«, doch das einzige, was passierte, war eine großangelegte Militäroffensive im April, die mehr als 100 KurdInnen das Leben kostete.

Bei einem Staatsbesuch in Bonn sprach Yilmaz kurdischen Flüchtlingen in Deutschland jegliche Fluchtgründe ab. Sie seien »größtenteils von der PKK nach Deutschland eingeschleust und lassen sich für politische Ziele der PKK benutzen, um politisches Asyl zu erlangen«, erklärte Yilmaz vor der Presse.


28.06.1996 – 30.06.1997: Yilmaz erneut in der Opposition

Nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit gehörte Mesut Yilmaz weiter dem Parlament an. Bis zum 30.6.1997 führte er die ANAP-Opposition gegen Refah-Ministerpräsident Erbakan und DYP-Außenministerin Çiller.

Yilmaz nutzte auch während seiner Zeit als Oppositionsführer seine gute Beziehungen zum Nationalen Geheimdienst der Türkei.

Zu Beginn der »Susurlukaffäre«, die in der Türkei als Synonym für die staatlichen Verbindungen zum organisierten Verbrechen steht und mit jenem bereits erwähnten Autounfall verknüpft ist, der die Beziehungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen ans Licht brachte, präsentierte sich Yilmaz zunächst als Saubermann. Später wurden jedoch ebenfalls seine Korruptionsverbindungen zur türkischen Mafia offenbar, die 1998 seinen Rücktritt erzwangen.

Über ihre Kontakte zu verschiedenen Geheimdiensten und den daraus abrufbaren Informationen bezichtigten sich Mesut Yilmaz und Tansu Çiller jeweils gegenseitig der Zusammenarbeit mit bestimmten Mafiagruppen, die im staatlichen Auftrag die Opposition terrorisierten und die Wirtschaftsbereiche von Bauwirtschaft und Banken über Glücksspiel und Menschenhandel bis zum Drogenexport kontrollierten. Dabei kristallisierte sich mehr und mehr heraus, daß Çiller und A∂ar ihre Macht über den Geheimdienst der Polizei und seine privaten Auftragskiller absicherten, während Yilmaz eher die Unterstützung des Geheimdienstes MYT genoß.


30.06.1997–25.11.1998: III. Amtszeit als Ministerpräsident

Mit Hilfe von Drohungen hatte der Generalstab mit einem unblutigen Putsch den Weg für eine neue Regentschaft von Mesut Yilmaz bereitet.

Yilmaz selbst gab unumwunden zu, daß sein neues Kabinett die Antwort darauf sei, daß Ministerpräsident Erbakan sich nicht den Weisungen des Militärs unterordnete.

Während Yilmaz’ dritter und längster Amtszeit gehen unzählige Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der türkischen Regierung.

Aufgrund der andauernden Pressezensur und der Schließungen von Zeitungsredaktionen, berichtete das US-amerikanische »Committee for the Protection of Journalists« (CPJ) zum Ende von Yilmaz’ Amtszeit, daß in der Türkei im fünften Jahr in Folge mehr JournalistInnen im Gefängnis einsäßen, als in jedem anderen Land der Welt. Yilmaz hatte zu Beginn seiner Amtszeit umfassende Verbesserungen der Pressefreiheit angekündigt. Faktisch wurde jedoch lediglich eine Handvoll Chefredakteure unter strengen Auflagen auf Bewährung aus der Haft entlassen. Das Gesetz gegen »Gesinnungsdelikte« bestand unvermindert fort.

Das kurdische Neujahrsfest geriet am 21. März 1998 erneut zu einer blutigen Machtdemonstration des türkischen Staates. Rund 80000 Menschen hatten sich auf dem Batikent-Platz in Diyarbakir versammelt, um »Newroz« zu feiern. Das Fest wurde umzingelt, ein anschließender Demonstrationszug brutal zerschlagen. Räumpanzer und andere Fahrzeuge wälzten die Menge nieder, ungeachtet, wer ihnen unter die Räder kam. Von Motorrädern der Polizei schlugen Beifahrer mit langen Holzknüppeln auf die Köpfe der Umherrennenden. Fliehende wurden in kleinen Gruppen eingekesselt und durften die Kessel nur durch ein Spalier prügelnder Polizisten verlassen. Unter den Mißhandelten befand sich auch die deutsche Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke. Die Zahl der Verletzten wurde nie festgestellt. Allein 25 mußten jedoch noch am selben Nachmittag stationär in umliegenden Krankenhäusern aufgenommen werden, wo sie umgehend festgenommen wurden.

Während der dritten Amtsperiode von Mesut Yilmaz nahm der Druck auch auf die »Samstagsmütter« erheblich zu. Unter diesem Namen versammelten sich jeden Samstag Angehörige von »Verschwundenen« in der Fußgängerzone vor dem Ystanbuler Galatasaray, um die Aufklärung des Schicksals ihrer entführten EhepartnerInnen, Kinder, Geschwister oder Eltern einzufordern.

Am 15. Oktober 1997 kritisierte der Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereines IHD, Akin Birdal, die Regierung Yilmaz wegen der andauernden Menschenrechtsverbrechen. Allein innerhalb der ersten drei Monate der Regierung seien 22 Menschen Opfer unaufgeklärter, von »Banden und Mafia« verübter Morde geworden. 28 Menschen seien »bei Exekution ohne Gerichtsurteil, im Verlauf von polizeilichen Einsätzen oder bei Folterung in Polizeigewahrsam« ums Leben gekommen.

Ein halbes Jahr später, am 12. Mai 1998, wurde Birdal in Ankara selbst Opfer eines Attentates, das er nur schwerverletzt überlebte. Unmittelbar nach dem Attentat äußerte Ministerpräsident Yilmaz öffentlich den Verdacht, der IHD könne selbst hinter der Tat stecken. Es handle sich eventuell um eine »interne Abrechnung der PKK«. Damit setzte Yilmaz die Propaganda fort, die dem Attentat vorausgegangen war und in den Massenmedien über Wochen hinweg den IHD-Vorsitzenden als gekauften Befehlsempfänger Öcalans verunglimpfte.

Bis heute ist nicht klar, ob Mesut Yilmaz von dem geplanten Attentat gewußt hat.

Zumindest zu einem Mafiakiller können direkte Verbindungen mit ausreichender Begründung angenommen werden.

Daß diese Verbrechen niemals vor Gericht verhandelt wurden, liegt in erster Linie an der Immunität, die Yilmaz als Parlamentsabgeordneter genoß. Die Erkenntnisse sämtlicher parlamentarischen Untersuchungsausschüsse bewegten das Parlament nicht, eine Verbindung von Yilmaz oder seiner Konkurrentin Çiller zum Organisierten Verbrechen anzuerkennen und deren Immunität aufzuheben. Eine gerichtliche Klärung wurde damit verhindert.

Im Zuge von Amnestieregelungen hat sich die politische Klasse der Türkei aus der rechtlichen Verantwortung für die Verbindungen zum Organisierten Verbrechen gezogen.

Von der Straflosigkeit profitieren in der Türkei all jene, die ihre Verbrechen im Auftrag des Staates begehen. Ob sich dies in Zukunft ändern kann, wird die Zeit zeigen.

Eine unabhängige Justiz existiert in der Türkei bislang nicht. So bleibt, auch nachdem Mesut Yilmaz nun keine Immunität mehr genießt, für die unmittelbare Zukunft wenig Hoffnung, ihn vor einem türkischen Gericht zu sehen.

Dennoch: Mesut Yilmaz gehört nicht an einen Lehrstuhl, sondern auf die Anklagebank.
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