FAKTEN, FAKTEN, FAKTEN ....
Eine offene Entgegnung auf ein Flugblatt der
"Türkischen Akademiker zu Bochum e.V. / Studentischer Zweig" TABo / TABoSZ


"Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben -
nicht wegen der Menschen die Böses tun, sondern wegen der Menschen,
die daneben stehen und sie gewähren lassen."
(Albert Einstein)


Am 16.05.2003 vermeldete die türkische Zeitung Aksam, dass der Nationale Sicherheitsrat der Türkei - jenes Gremium, mittels dessen der türkische Generalstab seine Führungsfunktion über die zivilen Institutionen der türkischen Politik wahrnimmt - nunmehr 8.000 türkische Vereine und Stiftungen im Ausland unter einer Dachorganisation zusammenfassen wolle. Ziel dieser Zentralisierung sei es, die Arbeit der Organisationen besser zu koordinieren und wirksamer zu gestalten.
TABo (SZ) bedarf einer solchen Lenkung nicht mehr. Die bislang weitgehend unbekannte Gruppe hat in ihrem jüngsten Flugblatt längst offen jene Diktion des türkischen Generalstabes übernommen, die seit Dekaden im In- und Ausland Realitäten zu verschleiern und Hirne zu vernebeln sucht.

So wird jenen, die die Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" tragen, oder sich ihr angeschlossen haben, vorgeworfen, "in altbekannter Art und Weise die angebliche Kurdenfrage, die Menschenrechtssituation und die Politik der Türkei negativ darzustellen."
Der Vorwurf ist im Grundsatz nicht unberechtigt, jedoch untertrieben. Die Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" stellt die Menschenrechtssituation in der Türkei als das dar, was sie ist:
nicht nur "negativ", nein vielmehr verheerend - und sie tut dies in "altbekannter Weise".
Fordern doch altbekannte Verbrechen, die sich in den Menschenrechtsbilanzen der Türkei ungezügelt fortsetzen, geradezu dazu heraus, nicht nachzulassen, diese Verbrechen gestern, heute und morgen ohne jede Abstriche täglich neu zur politischen Anklage zu bringen. So lange, bis die verantwortlichen VerbrecherInnen sich vor ordentlichen Gerichten wiederfinden und türkische wie kurdische Menschen in der Türkei ihrer elementaren Rechte nicht länger beraubt werden.

Und noch etwas stimmt. Die Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" maßt es sich an, sich „in Zeitungen zu äußern, Schriften zu verteilen und Demonstrationen zu veranstalten“, und sie wird dies auch in Zukunft tun.
Nicht wenige Mitglieder von Organisationen, die die Kampagne unterstützen, haben einen derart anmaßenden Gebrauch ihrer Menschenrechte auf freie Meinungsäußerung (Art. 19) und Versammlungsfreiheit (Art. 20) sogar in der Türkei selbst betrieben und dafür ihre Rechte auf Freiheit und Sicherheit (Art. 3), auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 7) und auf wirksamen Rechtsschutz (Art. 8), ihren Anspruch auf Verfahren vor einem unabhängigen Gericht (Art. 10) und auf Gesundheit und Wohlbefinden (Art. 25) eingebüßt. Und sie durften am eigenen Leib erfahren, dass sie in der Türkei nicht nur willkürlich festgenommen oder des Landes verwiesen (Art. 9) werden konnten, sondern dass auch Eingriffe in ihr Privatleben und Angriffe auf ihre Ehre (Art. 12) zur alltäglichen Erfahrung mit dem türkischen Staat wurden. Und sie mussten erkennen, dass im Zweifelsfalle jeder und jede der Folter oder erniedrigender Behandlung (Art. 5) unterworfen werden kann, dass für Kurdinnen und Kurden ein Recht zur freien Teilnahme am kulturellen Leben (Art. 27) strafbar war und nur allzu oft noch immer lebensgefährlich ist, weil in der Türkei eben nicht alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten (Art. 1) geboren werden.
Auch wenn es den VerfasserInnen der Flugschrift nicht passt, in diesem Lande ist es noch immer möglich, diese Verbrechen öffentlich zu machen, sie anzuprangern und die Verantwortlichen beim Namen zu nennen.
Und einer dieser Verantwortlichen ist der ehemalige Ministerpräsident Mesut Yilmaz.

So wird die Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" fortfahren "die Türkei wie ein Land darzustellen, in dem hemmungslos Menschenrechte missachtet und in dem der Staat systematisch Minderheiten aufgrund ihrer ethnischen Herkunft verfolgt werden", denn nichts charakterisiert die Verkommenheit der türkischen Rechtspraxis besser als diese von den AutorInnen der Flugschrift gewählte Zusammenfassung.

Und sie wird fortfahren, den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei in all seiner Brutalität offen zu benennen. Dass dies den studentischen Zweig der türkischen Generalstabsdiktion "überrascht" ist eher schwer zu glauben, dass es ihm nicht passt, wird umso einsichtiger, da die studentische Zweigstelle den Krieg als "angeblichen Krieg" negiert und mit den Worten eines Mesut Yilmaz als "Offensive gegen die international bekannte Terrororganisation PKK" relativiert.

Ohne Zweifel sind auch der PKK Menschenrechtsverbrechen zuzuschreiben. Dazu gehören auch, aber nicht nur die Ermordung von LehrerInnen in den kurdischen Provinzen der Türkei. Zahlreiche FunktionärInnen der Kurdischen Arbeiterpartei befinden sich in den Gefängnissen des Landes, allen voran der Vorsitzende der PKK. Einige von ihnen haben jene Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu verantworten - zahlreiche andere nicht.. Während Angehörigen der PKK jedoch nicht einmal ein rechtsstaatliches Verfahren gewährt wird, während sie der Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind, während einige von ihnen Jahre in Todeszellen zubrachten, haben sich die KriegsverbrecherInnen des türkischen Staates selbst amnestiert. Sie laufen nicht nur frei herum, sie lehren sogar an der Ruhr-Universität Bochum.
Das Gros jener jedoch, die in der Türkei ihrer Freiheit und Menschenwürde beraubt werden, die auf offener Straße ermordet oder in ihren eigenen Betten massakriert werden, hat mit der PKK jedoch schlichtweg nichts zu tun. Ihr einziges Verbrechen ist es, oppositionell zu sein, Dissidenz zu verkörpern und die Allmacht staatlicher Unterdrückung in Frage zu stellen oder schlichtweg Kurdinnen und Kurden zu sein und dies auch noch öffentlich zu vertreten.
Berichten von Amnesty international zufolge wurde erst vor vier Wochen der Leichnam des nach einem Treffen mit einem Gendarmerieoffizier "verschwundenen" kurdischen Bauern Siddik Kaya am Ufer des Flusses Murat in der Provinz Mus gefunden. Laut dem Bericht der Gerichtsmedizin war er durch einen Kopfschuss getötet worden. Vorher hatte man ihm die Augen verbunden, ihn geknebelt und seine Hände auf dem Rücken gefesselt. Offenbar hatte man ihm einen Sandsack umgebunden, um die Leiche im Wasser zu versenken.
Der Krieg mit der PKK ist vorbei, aber wo ist der Frieden?

Die "positiven Entwicklungen der Türkei in diesem Bereich", die in dem Flugblatt der studentischen Zweigstelle türkischer Staatspropaganda hervorgehoben werden, gibt es wirklich. Sie betreffen einige hart erkämpfte und gegen den Willen der politischen und militärischen Eliten des Landes durchgesetzte, Anpassungen von Gesetzen an die Forderungen der Europäischen Union. Von den angeführten Änderungen an "1100 Gesetzen" betraf nur eine Handvoll den Menschenrechtsbereich. Sie bilden einen zögerlichen Anfang, der jedoch nicht zu unterschätzen ist und der jener Schneeball werden könnte, der die notwendige Lawine ins Rollen bringen muss.
So heißt es im regelmäßigen Bericht der Europäischen Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt für das Jahr 2002:
"Der Beschluss über den Kandidatenstatus der Türkei in Helsinki 1999 hat die Türkei zur Einführung einer Reihe grundlegender Reformen ermutigt. [...] Nichtsdestotrotz hält die Türkei die politischen Kriterien nicht vollständig ein. Erstens enthalten die Reformen zahlreiche bedeutende Einschränkungen des vollständigen Genusses der Grundrechte und Grundfreiheiten, die im vorliegenden Bericht dargelegt werden. So gelten weiterhin wichtige Beschränkungen der Meinungsfreiheit, insbesondere bei der Presse und beim Rundfunk, der Versammlungsfreiheit zu friedlichen Zwecken, der Vereinigungsfreiheit, der Religionsfreiheit, und des Berufungsrechts vor Gericht. [...] Drittens wurde noch keine angemessene Lösung für zahlreiche Fragen gefunden, die mit den politischen Kriterien zusammenhängen. Dazu zählen die Bekämpfung von Folter und Misshandlungen, die zivile Kontrolle über das Militär, die Lage von wegen gewaltlosen Meinungsäußerungen inhaftierten Personen und die Achtung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte."

In der Tat gibt es auch in anderen Ländern nach wie vor viel zu tun, um Menschenrechten volle Geltung zu verschaffen. Dies gilt ohne jede Ausnahme auch für die derzeitigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, sowie die aktuellen BeitrittskandidatInnen. Doch nicht in allen diesen Ländern zusammen, erreicht die Zahl der Folterungen, der staatlichen Auftragsmorde, der systematischen Vergewaltigungen auf Polizeistationen und das Verschwindenlassen von Oppositionellen auch nur einen Bruchteil der Verbrechen, die im Auftrag des türkischen Staates verübt werden.
Der international bekannte Menschenrechtler Akin Birdal formulierte dies auf einem internationalen Kongress der Internationalen Förderation der Menschenrechtsligen 1998 so:
"Während sich in Spanien die 28 Morde der GAL-Todesschwadronen zu einer Staatsaffäre ausweiteten, ist in der Türkei, die sich immerhin als Rechtsstaat begreift und an die Tür der Europäischen Gemeinschaft klopft, dergleichen nicht zu erwarten. Bislang ist noch keiner der Verantwortlichen für die mehr als 4500 unaufgeklärten politischen Morde, die seit 1991 traurige Berühmtheit erlangten, verhaftet worden. In meinem Land laufen die Mörder frei auf der Straße herum, während die Intellektuellen hinter Gittern sitzen."
Dies war zur Zeit der Regierung von Ministerpräsident Yilmaz. Vor dem Hintergrund der fortbestehenden katastrophalen Menschenrechtsbilanzen und der andauernden Straflosigkeit der TäterInnen können die im Flugblatt der studentischen Zweigstelle gepriesenen Reformen bislang nur als ein Anfang bezeichnet werden. Dieser Anfang, der vor allem in der Zeit nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Yilmaz eingeleitet wurde, muss nun massiv ausgeweitet werden, wenn er nicht im Stadium einer kosmetischen Makulatur verkommen will.
Dazu gehört es auch, die Verantwortlichen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Diesem Ziel dient die Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl".

Die von der Zweigstelle in ihrem Flugblatt gepriesenen Errungenschaften bieten weder Grund zu Stolz noch zu Freude, im Gegenteil.
Wann wird man in der Türkei in kurdischer Sprache einen Schulabschluss oder ein Universitätsstudium machen können? Wann wird der Massenmord an der armenischen Bevölkerung Einzug in die Geschichtsbücher an Schulen und Universitäten halten? Wann wird das erste Institut für Kurdologie an einer türkischen Universität eingerichtet? Und wann werden Fernsehbeiträge, Zeitungsartikel und Bücher veröffentlicht werden können, die nicht zuvor von der Zensurbehörde kontrolliert wurden?
Wann wird den gigantischen Umweltzerstörungen durch Staudammprojekte, der Überschwemmung einmaliger Weltkulturschätze und der Austrocknung der für den gesamten Mittleren Osten lebenswichtigen Wasseradern von Euphrat und Tigris Einhalt geboten werden? Dies sind keine "Investitionen des türkischen Staates in den strukturschwachen Südosten des Landes, die Arbeitsplätze schaffen" sollen, es sind gigantomanische Projekte, die den nachgeschalteten Regionen jegliche Lebensgrundlage entziehen können und sie von der Willkür des türkischen Staates abhängig machen.

Ins Bodenlose fällt die Argumentation von Yilmaz' wackeren MitstreiterInnen, wenn sie die Mitbeteiligung kurdischstämmiger Menschen an der türkischen Politik betonen. Niemand hat je bestritten, dass sich PolitikerInnen kurdischer Abstammung einen festen Platz im türkischen Machtapparat sichern konnten und können. Der Söldnerführer, Mafiaboss und kurdischstämmige Parlamentsabgeordnete Sedat Bucak erhielt gar freie Hand, um mit ca. 20.000 sogenannten "Dorfschützern" eine ganze Region bei Siverek zu unterjochen. Der kemalistische Assimilations-Rassismus gewährt unterschiedslos allen "das Glück, ein Türke zu sein". Wehe jedoch jenen, die auf ihrer Verschiedenheit bestehen, die nicht leugnen, Angehörige kurdischer, armenischer, lazischer, griechischer, arabischer, yezidischer, christlicher, jüdischer oder anderer Minderheiten zu sein. Die kurdische Abgeordnete Leyla Zana sitzt bis heute hinter Gittern, seit sie und andere 1994 aus dem Parlament heraus verhaftet wurden. Leyla Zana hatte ihren Amtseid auf kurdisch gesprochen.

Auch die Gruppen, die die Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" tragen, sind der Ansicht, dass "durch Heranführung der Türkei an die europäische Union die Demokratie gestärkt, die Menschenrechtssituation verändert" werden kann. Wir bestehen jedoch darauf, dass dies der unveräußerliche Kern eines jeden Beitrittsprozesses sein muss, und dass dieser nur dann fortschreiten kann und darf, wenn wirkliche Verbesserungen der Menschenrechtsbilanzen der Türkei nachweisbar sind. Die Kopenhagener Kriterien sind im Zuge des Beitrittsprozesses bis zum letzten zu erfüllen. Hierüber kann und darf es keine Zugeständnisse und keine Kompromisse geben. Diese Fortschritte muss die Türkei erzielen und nicht die Europäische Union.
Wir sind darüber hinaus der Überzeugung, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit von rechtsstaatlichen Institutionen untersucht und unter Anklage gestellt werden müssen, unabhängig davon, ob die Täter unmittelbar in den Folterkammern oder in den befehlsgebenden Amtsstuben und von der Regierungsbank aus ihre Verbrechen begangen haben.
Der Kampf für Menschenrechte ist in diesem Sinne nicht "fair und ausgewogen", er ist zutiefst parteiisch auf der Seite der Opfer.

Und wir betonen auch in Zukunft, dass Menschenrechtsverbrecher für uns keine Gesprächspartner darstellen - in keinem Falle. Verbrechen sind keine Meinungsverschiedenheiten, Verbrechen diskutiert man nicht, Verbrecher klagt man an.

In diesem Sinne gehört auch der ehemalige Ministerpräsident eines verbrecherischen Regimes nicht an einen Lehrstuhl, sondern auf die Anklagebank eines ordentlichen Gerichtes.

Knut Rauchfuss
(Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum)