Junge welt 14.10.2005
Ausland
Ulla Jelpke
In
zahlreichen lateinamerikanischen Ländern wird für eine
juristische Aufarbeitung der in Militärdiktaturen begangenen
Menschenrechtsverletzungen gestritten
Seit den 90er
Jahren haben frühere Opfer, ihre Angehörigen sowie
Menschenrechtler in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern
für die juristische Aufarbeitung der in der Epoche der
Militärdiktaturen begangenen Menschenrechtsverbrechen gestritten.
Zunächst galt es, in Chile, Argentinien, Peru und Guatemala die
Schicksale von Opfern aufzuklären, Überlebende zu
rehabilitieren und die Täter ihrer Strafe zuzuführen.
Zugleich wurde international um die Einführung einer weltweiten
Strafgerichtsbarkeit gestritten. Gegen den massiven Widerstand der USA
unterschrieben zahlreiche Länder das Abkommen über den
internationalen Strafgerichtshof und ratifizierten dessen Statut.
Vergangenheitsbewältigung
Für
die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum (MFB) bieten Prozesse
gegen Menschenrechtsverbrecher mehrere Möglichkeiten, die
Vergangenheit aufzuarbeiten. Da ist zum einen der strafrechtliche
Aspekt, bei dem es darum geht, die Täter zu bestrafen. Zum anderen
geht es darum, die Opfer politischer Gewalt für ihre Haftzeit zu
entschädigen. Oft sind sie aus den sozialen Sicherungssystemen
herausgefallen, stehen weiter unter Berufsverbot oder dürfen ihre
bürgerlichen Rechte nicht wahrnehmen. Die Verurteilung der
Täter habe darüber hinaus abschreckende Wirkung.
Schließlich
gibt es laut MFB auch einen psychosozialen Ansatz. »Opfer von
Folter leiden vor allem unter der Ohnmacht, die sie während der
Verhöre und in der Haft in extremster Weise durchstehen
mußten. Der komplette Kontrollverlust in der Foltersituation
selbst verlängert sich jedoch über die Haft hinaus in den
Alltag, der keinen Platz für eine Wiedererlangung eigener
Steuerungsmechanismen und Eingriffsmöglichkeiten bietet, um
diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die diese Verbrechen begangen
haben.«
Neben individuellen Therapieansätzen
haben gesellschaftliche Umbrüche mit nachfolgender
Demokratisierung zugleich gezeigt, daß Gerechtigkeit heilt. Nicht
nur diejenigen, die sich unmittelbar als Kläger oder Zeugen an
Gerichtsverfahren beteiligten, sondern auch Überlebende, die
medienvermittelt ihre ehemaligen Folterer später auf der
Anklagebank wiedersahen, haben durch die Veränderung ihrer
Position erstaunliche Genesungserfolge erfahren.
Hierbei
spielen, so die Erkenntnisse der MFB, vor allem zwei Aspekte eine
wesentliche Rolle: Diejenigen, die sich selbst an Sammelklagen
beteiligen, verlassen durch diesen Schritt die Opferrolle, in die sie
das Erlittene gedrängt hat. Sie werden initiativ, übernehmen
erneut Verantwortung bei der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse und
wehren sich zeitversetzt gegen ihre Wehrlosigkeit in der durchlittenen
Situation. Diejenigen, die sich nicht selbst an Prozessen beteiligen,
profitieren indirekt von der Veränderung der gesellschaftlichen
Wahrnehmung.
Die Kampagne »Gerechtigkeit
heilt« bietet die Möglichkeit, über die früheren
individualtherapeutischen Behandlungsansätze hinaus den Begriff
der Therapie in einem sozialmedizinischen Kontext zu etablieren. Sie
verbindet Menschenrechtsarbeit mit Prävention und Therapie in eben
jenem Feld, das in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung bei der
Medizinischen Flüchtlingshilfe gewonnen hat: bei der Therapie
psychotraumatisierter Patienten. Eine länderübergreifende
Betrachtung dieser Thesen existiert bislang nicht. Ziel des Projektes
ist daher die systematische Erfassung von derzeitigen Aktivitäten
im internationalen Kampf gegen Straflosigkeit. Die Weitergabe dieser
Informationen an Menschenrechtsorganisationen, Juristen und
Einzelpersonen soll den Austausch und die Vernetzung untereinander
fördern. Konkret ermöglicht die Bündelung von
Erfahrungen, die im Kampf gegen Straflosigkeit in unterschiedlichen
Ländern gemacht wurden, zukünftige Anklagen effektiver
einleiten zu können. Bei bisherigen Aufarbeitungsprozessen kamen
Wahrheitskommissionen, Tribunale, Entschädigungsleistungen und
andere Rehabilitationsmaßnahmen unterschiedlich zum Einsatz. Das
Projekt soll daher versuchen, Erfolg und Mißerfolg dieser
Strategien in den Aufarbeitungsprozessen kritisch zu werten.
Unter linker Flagge
Was
sich individualtherapeutisch verdienstvoll und unterstützenswert
anhört, ist politisch ein großer Skandal. Unter linker
Flagge wird der frühere Kosovo-Kommissar Tom Koenigs
plötzlich als Menschenrechtsfreund präsentiert. Der
Schirmherr der Bochumer Veranstaltung war unmittelbar nach dem
NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien Leiter der UN-Verwaltung im Kosovo -
wurden in seiner Amtszeit nicht mehr als 20000 Serben, Sinti und Juden
dauerhaft aus der Provinz vertrieben und weit mehr als 1000
Nichtalbaner ermordet? Gehörte ob dieser Menschenrechtsverbrechen
Koenigs, heute Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, da nicht
eher auf die Anklagebank? Aufklärung könnte Milan Rakita vom
Menschenrechtszentrum in Belgrad bringen. Könnte. Doch der Gast
aus Serbien hat sich dem UN-Tribunal in Den Haag verschrieben und wird
über Slobodan Milosevic klagen. Im Bochumer Bahnhof Langendreer
steht im »Kampf gegen Straflosigkeit« Jugoslawiens
Expräsident dann schön in einer Reihe mit Diktator Augusto
Pinochet. Auch das verwundert wenig, meint das MFB doch, mit dem
völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Tribunal in Den Haag habe die
internationale Gerichtsbarkeit »erneut völkerrechtliche
Bedeutung« erlangt. Sorry, mit Recht und Gerechtigkeit hat all
das nichts zu tun.
Inland
Ulla Jelpke
Vom 14. bis 16. Oktober beschäftigt sich ein Kongreß in Bochum mit den Opfern von Gewaltherrschaft
Die
Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V. veranstaltet vom 14. bis
16. Oktober in Bochum den international besetzten Kongreß
»Gerechtigkeit heilt - Der internationale Kampf gegen
Straflosigkeit«. Der Kongreß ist Teil eines
zweijährigen Projektes, das von der NRW- Stiftung für Umwelt
und Entwicklung gefördert wird.
Die Medizinische
Flüchtlingshilfe Bochum e.V. ist eine sozialmedizinische
Menschenrechtsorganisation. Sie wurde 1997 von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern verschiedener Flüchtlingsinitiativen sowie von
Ärztinnen und Ärzten gegründet. Seitdem arbeitet sie als
Vermittlungsstelle für die gesundheitliche Versorgung von
Flüchtlingen und bietet kostenlos und anonym psychosoziale
Beratung und Therapie an. Neben der praktischen Unterstützung auch
für Illegalisierte Flüchtlinge ist die politische
Menschenrechtsarbeit ein wichtiger Bereich. In diesem Zusammenhang
beschäftigt sich die Medizinische Flüchtlingshilfe mit den
gesellschaftlichen Dimensionen von Krankheit und Flucht. Jahrzehntelang
anhaltende Straflosigkeit in Fällen von massiven und
systematischen Menschenrechtsverletzungen - die berüchtigte
»Impunidad« - wird in Lateinamerika als eines der
größten Hindernisse zur Entwicklung einer wahren Demokratie
und eines nachhaltigen Friedens angesehen. Aktuelle Beispiele
hierfür gibt es immer wieder. So hat das kolumbianischen Parlament
im Juni 2005 eine Teilamnestie für reaktionäre
Milizionäre beschlossen. Kritiker warfen daraufhin dem
Präsidenten Alvaro Uribe vor, mit dem Beschluß
begünstige seine Regierung Mörder und
Drogengeschäftemacher. Vor allem gegenüber den brutalen
Kommandeuren der Vereinigten Selbstverteidigungskräften (AUC) sei
die Regelung zu milde. Diese Paramilitärs werden für viele
Gräueltaten des Bürgerkrieges verantwortlich gemacht. Sie
wurden in den 80er Jahren als Privatmilizen von Landeigentümern
und Kokainhändlern gegründet, um marxistische Rebellen zu
bekämpfen.
Ebenfalls vor wenigen Monaten, im Juli
2005, ging einer der spektakulärsten Menschenrechtsprozesse
Afrikas mit einem kompletten Freispruch zu Ende.
In dem
Verfahren um 353 Verschwundene aus den Zeiten des Bürgerkrieges in
Kongo-Brazzaville sprach ein Gericht die fünfzehn angeklagten
Militärs frei. Der brutale Bürgerkrieg zwischen der Armee von
Präsident Denis Sassou-Nguesso und bewaffneten Anhängern des
von ihm gestürzten Vorgängers Pascal Lissouba im Jahre 1999
forderte zehntausende Tote und hunderttausende Vertriebene. Die
Demokratische Republik Kongo, deren Hauptstadt Kinshasa direkt
gegenüber von Brazzaville am Kongo-Fluß liegt, nahm
zahlreiche Flüchtlinge auf. Mit Hilfe des
UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR wurde die
Rückführung von Flüchtlingen auf freiwilliger Basis
vereinbart. Aber bei der Ankunft in Brazzaville wurden immer wieder
Rückkehrer als mutmaßliche Rebellen verhaftet und viele nie
wieder gesehen, sondern offenbar umgebracht. 2001 wurde in Frankreich
aufgrund der Anzeige zweier Hinterbliebener ein Ermittlungsverfahren
gegen den Generalinspekteur von Kongo-Brazzavilles Armee eingeleitet,
jedoch im November 2004 eingestellt. Zuvor hatten in Brazzaville selbst
Ermittlungen begonnen. Doch in Kongo-Brazzaville existiert keine
unabhängige Justiz. Obwohl ein Präsidentenberater sogar das
Verschwinden von 199 Personen bestätigte und die Anklage immerhin
gegen sieben der fünfzehn angeklagten Militärs bis zu zehn
Jahren Zwangsarbeit forderte, legte das Gericht den Skandal ohne
Schuldsprüche zu den Akten.
Die Medizinische
Flüchtlingshilfe Bochum setzt sie sich mit der Kampagne
»Gerechtigkeit heilt« seit November 2002 verstärkt
für die strafrechtliche Verfolgung solcher
Menschenrechtsverbrechen ein. Neben ihrem ständigen
Kooperationspartner in diesem Kampf für Gerechtigkeit, dem
Internationalen Zentrum für Menschenrechte der Kurden in Bonn,
haben auch schon viele andere Organisationen und Einzelpersonen im In-
und Ausland die unterschiedlichen Aktionen und Projekte der Kampagne
unterstützt. Aktuell konzentriert sich die Medizinische
Flüchtlingshilfe Bochum innerhalb der Kampagne auf ein
Forschungsprojekt, das den internationalen Kampf gegen Straflosigkeit
untersucht und seine Ergebnisse in einer Vergleichsstudie publizieren
wird.
* Der Kongreß-Fahrplan