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Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

Gerechtigkeit heilt –
Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit

Internationaler Kongress vom 14. bis 16. Oktober 2005

Simon Gasibirege
Center for Mental Health, Butare, Ruanda

Die Gacaca-Tribunale als Raum der Trauerarbeit und Traumaheilung

Die Gacaca-Rechtsprechung sind Tribunale, die gegründet wurden, um die Rechtsstreitigkeiten des Genozids an den Tutsi in Ruanda (1994) abzuwickeln. Diese Tribunale versammeln alle Bürger ab 18 Jahren in den politisch-administrativen Distrikten der Basis: der Zelle und dem Sektor. Diese begrenzen eine symbolischen sozialen Raum, in dem die Mitglieder der implodierten ruandischen Gesellschaft von 1994 sich treffen und die Bedingungen ihres neuen gemeinsamen Lebens verhandeln. Hier versuchen sie so gut wie möglich eine Kommunikation über den Grund der Dinge: das Leben und den Tod, die Verantwortung und die Schuld, das Gute und das Schlechte, die Wahrheit und die Lüge, die Gerechtigkeit und die Geschichte ... Sie tun dies, in dem sie ihr Wissen austauschen über das, was wirklich während des Genozids und der Massaker im April 1994 geschehen ist: Wer hat was gemacht, mit wem, wo, womit, wann? Wer hat was ertragen? Durch wen, womit, wo, wie, wann, mit wem?

Während der Sitzungen der Gacaca-Tribunale entsteht eine kollektive Rückkehr zu den begangenen und erlittenen Taten und ein Wiederaufstieg an die Oberfläche des Bewusstseins über die damals empfundenen Eindrücke und Gefühle. Dies ermöglicht eine Erfahrung, die es erlaubt, das Erlebte, Brutale, Gewaltvolle zu benennen, und deren Stoßwelle nach und nach aufhört, ein unaussprechlicher, unverständlicher und unanerkannter Fremdkörper in den Gedanken- und den individuellen und kollektiven Gefühlsschemata zu sein.
Daraus ergibt sich, dass die Gacaca-Tribunale eine Katharsis ermöglichen, eine Selbsterfahrung, deren Entwicklung von dem Verständnis abhängt, das man von dem Geschehenen hat und von dem, was ihre Organisation erlaubt, daraus zu machen, sei es für Individuen, lokale Gemeinschaften oder die Gesellschaft in ihrer Ganzheit.
Es stellt sich konsequenterweise als notwendig heraus, einen theoretischen Bezugsrahmen zu erdenken, um die Gacaca-Rechtsprechung als einen sozio-juristischen Prozess zu sehen, der möglicherweise auch geeignet sein kann, ein sozio-therapeutischer Prozess zu werden.

Unter welchen theoretischen und praktischen Bedingungen können die Gacaca-Tribunale zwei Handlungen miteinander verbinden: das sozio-juristische und das sozio-therapeutische? Die Antwort auf diese Frage lässt die vorhergehende Antwort auf folgende Fragen vermuten: Wer soll geheilt werden? Wovon muss er/sie geheilt werden?

Fast jede/r in Ruanda würde sagen, dass alle RuanderInnen von einem Trauma geheilt werden müssen. Doch das Wort „Trauma“ offenbart multiple Bedeutungen und enthält eine Vielzahl von Verwirrungen.
Die Analyse des Wortes Trauma zeigt, dass seine Bedeutung zu allererst auf die Trauer und die Trauerarbeit hinweist. Derjenige, der das Wort Trauma benutzt, bezeichnet damit den Schock, der durch die Konfrontation mit dem Tod hervorgerufen wird, sei es der eigene Tod oder der von anderen, direkt oder indirekt. Das Trauma weist auf einen Schock, verbunden mit dem Verlust oder dem drohenden Verlust der physischen oder psychischen, sozialen oder moralischen Integrität.
Das Trauma geht über die Kapazität, das Geschehene, das Erlebte und das Überraschende zu lesen, zu analysieren, zu erklären oder zu verstehen hinaus und fordert sie sogar heraus.
Da man sich überfragt und ohnmächtig fühlt, zu verstehen, was passiert ist, haben Individuen sowie auch Gruppen und Gemeinschaften die Tendenz, sich zurückzuziehen, sich zu isolieren und das traumatische Erlebnis immer wieder zu wiederholen. Wenn man ihnen aber günstige Bedingungen anbietet, um sich auszudrücken, tun sie dies mehr oder weniger bereitwillig. Doch bieten die Gacaca-Tribunale diese Bedingungen?

Sicherlich bieten sie Bedingungen, zu sprechen und sich auszudrücken. Doch reicht dies für eine Heilung? Nein, denn es ist wichtig, dem Gesagten und dem, der sich ausdrückt, einen Sinn zu geben. Die Zielsetzung der Einheit und Versöhnung würden eine solche Sinngebung erlauben, doch es sind gerade diese Ziele, die sich am wenigsten in die sozio-juristische Vorgehensweise, die durch die Gacaca-Tribunale etabliert wurde, integrieren lassen.
Hierzu gehören auch Geständnis und Schuldplädoyer, die Frage von Vergebung, doch ihre Belebung durch das sozio-politisch-juristische Spiel und die ideologische Vorgeschichte kann ihnen einen guten Teil ihres therapeutischen Wertes nehmen, da der Sinn, den die Ziele der Einheit und Versöhnung vermitteln, sich hier zutiefst widerspricht.
Auf der Basis der Diskussion über all diese Hindernisse auf dem Weg zur Heilung bildet sich der theoretische Bezugsrahmen und die  unabdingbaren Ausrichtungen für die Einrichtung der Gacaca-Tribunale als einen Raum für die Trauerarbeit und die Heilung des Traumas.

(Bochum, 15. Oktober 2005)