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Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

Gerechtigkeit heilt –
Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit

Internationaler Kongress vom 14. bis 16. Oktober 2005


analyse und kritik - ak 498 vom 16.9.2005

Gerechtigkeit heilt – Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit
Kongress vom 14. bis 16. Oktober 2005 in Bochum

Weltweit wird seit der Verhaftung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet in London 1998 mit großem Einsatz für eine juristische Aufarbeitung der in der Epoche der Militärdiktaturen begangenen Menschenrechtsverbrechen gestritten. Dabei wurde – und wird – von Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsvereinigungen, ebenso wie von breiten Teilen der Öffentlichkeit, mit großem Trickreichtum, einem hohen Maß an Akribie und einem langen Atem versucht, die Schicksale von Opfern aufzuklären, Überlebende zu rehabilitieren und die TäterInnen ihrer verdienten Strafe zuzuführen.

Der Versuch der gerichtlichen Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen birgt verschiedene Ansätze der Aufarbeitung von Vergangenheit:
Im rein strafrechtlichen Sinn geht es bei der gerichtlichen Verurteilung von Tätern schlichtweg um den Aspekt der Gerechtigkeit, mit dem Ziel, die Schuldigen wie Folterer, Auftragskiller und die politisch Verantwortlichen, sowie Kriegsverbrecher ihrer rechtsstaatlichen Strafe zuzuführen.
Im historischen Sinn dient die juristische Verurteilung des Verbrechens einer Neudefinition des moralischen Koordinatensystems der betroffenen Gesellschaften. Überlebende, die in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals über Jahrzehnte hinweg nicht als Opfer gesehen, sondern zur gesellschaftlichen Bedrohung umgelogen wurden, erlangen ihren Status als Verfolgte zurück. Und Regierende, Militärs und Polizei – über den gleichen Zeitraum Träger öffentlicher Definitionsgewalt –
werden in der prozessbegleitenden öffentlichen Debatte auf ihre Rolle als Verbrecher zurückgeworfen.

Nur zu oft entbehren Opfer politischer Gewalt materieller Fürsorge für die Zeit ihrer Inhaftierung, fallen durch soziale Sicherungssysteme und stehen bis heute unter Berufsverbot oder unter dem Entzug bürgerlicher und politischer Rechte. Von Entschädigungsleistungen für das erlittene Unrecht oder materieller Würdigung widerständiger Aktivitäten ist keine Rede. Die juristische Rehabilitierung und eine integrale Entschädigung können dazu beitragen, die Lebenssituation von Überlebenden staatlicher Gewalt zu verbessern.

Menschenrechtsorganisationen haben oft beklagt, dass die Straffreiheit von Tätern dazu beiträgt, Menschenrechtsverbrechen ungehemmter begehen zu können. Dabei stützen sie sich auf Erfahrungen aus der alltäglichen Menschenrechtsarbeit ebenso wie auf sozialpsychologische Studien, die belegen, dass das Ablegen von Verantwortung für die Straftat die Bereitschaft zu deren Begehung fördert. Die juristische Verurteilung von Tätern wirkt dem entgegen und stellt einen wesentlichen Schritt der präventiven Menschenrechtsarbeit dar.

Überlebende von Folter leiden vor allem unter der Ohnmacht, die sie während der Verhöre und in der Haft in extremster Weise durchstehen mussten. Der komplette Kontrollverlust in der Foltersituation selbst verlängert sich jedoch über die Haft hinaus in den Alltag, der keinen Platz für eine Wiedererlangung eigener Steuerungsmechanismen und Eingriffsmöglichkeiten bietet, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die diese Verbrechen begangen haben.
Neben individuellen Therapieansätzen haben gesellschaftliche Umbrüche mit nachfolgender Demokratisierung jedoch gezeigt, dass Gerechtigkeit heilen kann. Nicht nur diejenigen, die sich unmittelbar als KlägerInnen oder ZeugInnen an Gerichtsverfahren beteiligten, sondern auch Überlebende, die medienvermittelt ihre ehemaligen Folterer später auf der Anklagebank wiedersahen, haben durch die Veränderung ihrer Position erstaunliche Genesungserfolge erfahren.
Hierbei spielen vor allem zwei Aspekte eine wesentliche Rolle. Diejenigen, die sich selbst an Sammelklagen beteiligen, verlassen durch diesen Schritt die Opferrolle, in die sie das Erlittene gedrängt hat. Sie werden initiativ, übernehmen erneut Verantwortung bei der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse und wehren sich zeitversetzt gegen ihre Wehrlosigkeit in der durchlittenen Situation. Sie werden wieder zu handelnden Subjekten und können damit leichter die erlebten Ausnahmesituationen in die eigene Biografie integrieren.
Diejenigen, die sich nicht selbst an Prozessen beteiligen, profitieren indirekt von der Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die erfahrene eigene Rehabilitation und die rechtmäßige Kriminalisierung der Täter erleichtern es, sich gegenüber den eigenen schmerzlichen Erfahrungen zu öffnen, darüber zu reden, unter Umständen therapeutische Hilfe zu suchen und das Erlittene in die persönliche Biografie zu integrieren.

Die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum hat sich seit ihrem Bestehen neben praktischer Hilfe stets auch den gesellschaftlichen Dimensionen von Krankheit und Flucht gewidmet. Als sozialmedizinische Menschenrechtsorganisation stellt sie neben der unmittelbaren Behandlung von Flüchtlingen auch den vielschichtigen Komplex von fluchtbedingten Krankheitsursachen in den Kontext ihrer politischen Arbeit. In diesem Zusammenhang steht auch die Kampagne „Gerechtigkeit heilt“, mit der die Medizinische Flüchtlingshilfe international Aktivitäten im Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützt.
Der Kampf gegen Straflosigkeit stellt in diesem Zusammenhang den Begriff der Therapie in einen sozialmedizinischen Kontext. Er verbindet die therapeutische Arbeit mit Überlebenden von Folter und Krieg mit Menschenrechtsarbeit und Prävention.

Im Rahmen der Kampagne „Gerechtigkeit heilt“ veranstaltet die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum in Kooperation mit verschiedenen anderen Organisationen der Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit im Oktober einen internationalen Kongress.
Eingeladen sind MenschenrechtsaktivistInnen aus allen Kontinenten, die versuchen Strafprozesse gegen die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen in ihren Ländern oder außerhalb der Landesgrenzen zu eröffnen.
Im Rahmen des Kongresses soll die Vielfalt der Erfahrungen aus den unterschiedlichen Ländern und Bewegungen ausgetauscht werden, um für alle TeilnehmerInnen als Inspirationsquelle auf der Suche nach neuen Ideen und Ansätzen zu dienen, die den internationalen Kampf gegen Straflosigkeit in der Zukunft einen weiteren Schritt voran bringen können.

Der Kongress beginnt am Freitag, dem 14. Oktober, im Bahnhof Langendreer in Bochum mit einem Vortrag von Beate Klarsfeld zum Thema “Die Notwendigkeit der strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen”.
An den beiden Folgetagen werden Helen Mack (Myrna Mack Stiftung, Guatemala), Beatriz Brinkmann (CINTRAS, Chile), Chap Sotharith (Cambodian Institute for Cooperation and Peace, Kambodscha), Tiago Sarmento (JSMP, Osttimor), Judith Galarza (FEDEFAM, Venezuela), Jon Cortina (Pro Busqueda, El Salvador), Duma Khumalo (Khulamani Support Group, Südafrika), Simon Gasibirege (Centre for Mental Health, Butare, Ruanda), John Caulker (Truth and Reconciliation Work Group, Sierra Leone), Beatriz Brinkmann (CINTRAS, Chile), Milan Rakita (Humanitarian Law Center, Serbien und Montenegro), Franciso Soberón Garrido (National Human Rights Coordination, Peru) und weitere AktivistInnen aus Argentinien, Uruguay und der Türkei mit den anwesenden TeilnehmerInnen ihre praktischen Erfahrungen austauschen. Auf vier Foren widmen sie sich den Themenkomplexen „Wahrheitsfindung“, „Menschenrechtsverbrechen auf der Anklagebank“, „Gerechtigkeit heilt“ und „Entschädigung“.
Nähere Informationen und Anmeldung unter http://www.gerechtigkeit-heilt.de oder unter der Telefonnummer 0234-9041380

Knut Rauchfuss, Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.