Weltweit wird seit der Verhaftung des chilenischen Diktators Augusto
Pinochet in London 1998 mit großem Einsatz für eine
juristische Aufarbeitung der in der Epoche der Militärdiktaturen
begangenen Menschenrechtsverbrechen gestritten. Dabei wurde – und
wird – von Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsvereinigungen,
ebenso wie von breiten Teilen der Öffentlichkeit, mit großem
Trickreichtum, einem hohen Maß an Akribie und einem langen Atem
versucht, die Schicksale von Opfern aufzuklären, Überlebende
zu rehabilitieren und die TäterInnen ihrer verdienten Strafe
zuzuführen.
Der
Versuch der gerichtlichen Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen
birgt verschiedene Ansätze der Aufarbeitung von Vergangenheit:
Im
rein strafrechtlichen Sinn geht es bei der gerichtlichen Verurteilung
von Tätern schlichtweg um den Aspekt der Gerechtigkeit, mit dem
Ziel, die Schuldigen wie Folterer, Auftragskiller und die politisch
Verantwortlichen, sowie Kriegsverbrecher ihrer rechtsstaatlichen Strafe
zuzuführen.
Im historischen Sinn dient die juristische
Verurteilung des Verbrechens einer Neudefinition des moralischen
Koordinatensystems der betroffenen Gesellschaften. Überlebende,
die in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals über Jahrzehnte
hinweg nicht als Opfer gesehen, sondern zur gesellschaftlichen
Bedrohung umgelogen wurden, erlangen ihren Status als Verfolgte
zurück. Und Regierende, Militärs und Polizei –
über den gleichen Zeitraum Träger öffentlicher
Definitionsgewalt –
werden in der prozessbegleitenden öffentlichen Debatte auf ihre Rolle als Verbrecher zurückgeworfen.
Nur
zu oft entbehren Opfer politischer Gewalt materieller Fürsorge
für die Zeit ihrer Inhaftierung, fallen durch soziale
Sicherungssysteme und stehen bis heute unter Berufsverbot oder unter
dem Entzug bürgerlicher und politischer Rechte. Von
Entschädigungsleistungen für das erlittene Unrecht oder
materieller Würdigung widerständiger Aktivitäten ist
keine Rede. Die juristische Rehabilitierung und eine integrale
Entschädigung können dazu beitragen, die Lebenssituation von
Überlebenden staatlicher Gewalt zu verbessern.
Menschenrechtsorganisationen
haben oft beklagt, dass die Straffreiheit von Tätern dazu
beiträgt, Menschenrechtsverbrechen ungehemmter begehen zu
können. Dabei stützen sie sich auf Erfahrungen aus der
alltäglichen Menschenrechtsarbeit ebenso wie auf
sozialpsychologische Studien, die belegen, dass das Ablegen von
Verantwortung für die Straftat die Bereitschaft zu deren Begehung
fördert. Die juristische Verurteilung von Tätern wirkt dem
entgegen und stellt einen wesentlichen Schritt der präventiven
Menschenrechtsarbeit dar.
Überlebende von Folter leiden
vor allem unter der Ohnmacht, die sie während der Verhöre und
in der Haft in extremster Weise durchstehen mussten. Der komplette
Kontrollverlust in der Foltersituation selbst verlängert sich
jedoch über die Haft hinaus in den Alltag, der keinen Platz
für eine Wiedererlangung eigener Steuerungsmechanismen und
Eingriffsmöglichkeiten bietet, um diejenigen zur Verantwortung zu
ziehen, die diese Verbrechen begangen haben.
Neben individuellen
Therapieansätzen haben gesellschaftliche Umbrüche mit
nachfolgender Demokratisierung jedoch gezeigt, dass Gerechtigkeit
heilen kann. Nicht nur diejenigen, die sich unmittelbar als
KlägerInnen oder ZeugInnen an Gerichtsverfahren beteiligten,
sondern auch Überlebende, die medienvermittelt ihre ehemaligen
Folterer später auf der Anklagebank wiedersahen, haben durch die
Veränderung ihrer Position erstaunliche Genesungserfolge erfahren.
Hierbei
spielen vor allem zwei Aspekte eine wesentliche Rolle. Diejenigen, die
sich selbst an Sammelklagen beteiligen, verlassen durch diesen Schritt
die Opferrolle, in die sie das Erlittene gedrängt hat. Sie werden
initiativ, übernehmen erneut Verantwortung bei der Steuerung
gesellschaftlicher Prozesse und wehren sich zeitversetzt gegen ihre
Wehrlosigkeit in der durchlittenen Situation. Sie werden wieder zu
handelnden Subjekten und können damit leichter die erlebten
Ausnahmesituationen in die eigene Biografie integrieren.
Diejenigen,
die sich nicht selbst an Prozessen beteiligen, profitieren indirekt von
der Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die erfahrene
eigene Rehabilitation und die rechtmäßige Kriminalisierung
der Täter erleichtern es, sich gegenüber den eigenen
schmerzlichen Erfahrungen zu öffnen, darüber zu reden, unter
Umständen therapeutische Hilfe zu suchen und das Erlittene in die
persönliche Biografie zu integrieren.
Die Medizinische
Flüchtlingshilfe Bochum hat sich seit ihrem Bestehen neben
praktischer Hilfe stets auch den gesellschaftlichen Dimensionen von
Krankheit und Flucht gewidmet. Als sozialmedizinische
Menschenrechtsorganisation stellt sie neben der unmittelbaren
Behandlung von Flüchtlingen auch den vielschichtigen Komplex von
fluchtbedingten Krankheitsursachen in den Kontext ihrer politischen
Arbeit. In diesem Zusammenhang steht auch die Kampagne
„Gerechtigkeit heilt“, mit der die Medizinische
Flüchtlingshilfe international Aktivitäten im Kampf gegen die
Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützt.
Der
Kampf gegen Straflosigkeit stellt in diesem Zusammenhang den Begriff
der Therapie in einen sozialmedizinischen Kontext. Er verbindet die
therapeutische Arbeit mit Überlebenden von Folter und Krieg mit
Menschenrechtsarbeit und Prävention.
Im Rahmen der
Kampagne „Gerechtigkeit heilt“ veranstaltet die
Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum in Kooperation mit
verschiedenen anderen Organisationen der Menschenrechts- und
Flüchtlingsarbeit im Oktober einen internationalen Kongress.
Eingeladen
sind MenschenrechtsaktivistInnen aus allen Kontinenten, die versuchen
Strafprozesse gegen die Verantwortlichen für
Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen in ihren Ländern
oder außerhalb der Landesgrenzen zu eröffnen.
Im
Rahmen des Kongresses soll die Vielfalt der Erfahrungen aus den
unterschiedlichen Ländern und Bewegungen ausgetauscht werden, um
für alle TeilnehmerInnen als Inspirationsquelle auf der Suche nach
neuen Ideen und Ansätzen zu dienen, die den internationalen Kampf
gegen Straflosigkeit in der Zukunft einen weiteren Schritt voran
bringen können.
Der Kongress beginnt am Freitag, dem
14. Oktober, im Bahnhof Langendreer in Bochum mit einem Vortrag von
Beate Klarsfeld zum Thema “Die Notwendigkeit der strafrechtlichen
Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen”.
An den beiden
Folgetagen werden Helen Mack (Myrna Mack Stiftung, Guatemala), Beatriz
Brinkmann (CINTRAS, Chile), Chap Sotharith (Cambodian Institute for
Cooperation and Peace, Kambodscha), Tiago Sarmento (JSMP, Osttimor),
Judith Galarza (FEDEFAM, Venezuela), Jon Cortina (Pro Busqueda, El
Salvador), Duma Khumalo (Khulamani Support Group, Südafrika),
Simon Gasibirege (Centre for Mental Health, Butare, Ruanda), John
Caulker (Truth and Reconciliation Work Group, Sierra Leone), Beatriz
Brinkmann (CINTRAS, Chile), Milan Rakita (Humanitarian Law Center,
Serbien und Montenegro), Franciso Soberón Garrido (National
Human Rights Coordination, Peru) und weitere AktivistInnen aus
Argentinien, Uruguay und der Türkei mit den anwesenden
TeilnehmerInnen ihre praktischen Erfahrungen austauschen. Auf vier
Foren widmen sie sich den Themenkomplexen
„Wahrheitsfindung“, „Menschenrechtsverbrechen auf der
Anklagebank“, „Gerechtigkeit heilt“ und
„Entschädigung“.
Nähere Informationen und Anmeldung unter http://www.gerechtigkeit-heilt.de oder unter der Telefonnummer 0234-9041380
Knut Rauchfuss, Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.